Der Glanz des Mondes
erzählte mir von dem houou, als er mich den Schriftzug meines Namens lehrte«, sagte ich schließlich. »Als ich ihn letztes Jahr in Hagi traf, riet er mir hier auf ihn zu warten, doch mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir müssen noch diese Woche nach Maruyama aufbrechen.« Seit der Schnee geschmolzen und die Wege wieder passierbar waren, hatte ich mich um meinen alten Lehrer gesorgt, denn mir war klar, dass die Otorilords, Shigerus Onkel, versuchten mein Haus und meine Ländereien in Hagi an sich zu reißen, und Ichiro ihnen beharrlich Widerstand leisten musste.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass er bereits tot war. Erst am darauf folgenden Tag erfuhr ich es. Ich stand im Hof und unterhielt mich gerade mit Amano, als ich etwas von weit unterhalb des Tempels hörte: wutentbrannte Schreie, hastende Schritte, Hufgetrappel. Das Geräusch der den Hang hinaufhetzenden Pferde kam unerwartet und erschreckte mich. Es war nicht normal, dass man sich dem Tempel von Terayama zu Pferde näherte. Besucher kamen für gewöhnlich zu Fuß den steilen Bergpfad hinauf oder wurden, wenn sie schwächlich waren oder sehr betagt, von kräftigen Trägern hinaufgeschleppt.
Sekunden später nahm auch Amano die Geräusche wahr. Ich rannte bereits zum Tor und rief nach den Wachtposten.
Eilig machten sie sich daran, die Tore zu schließen und zu verbarrikadieren. Matsuda kam über den Hof herbeigerannt. Er trug keine Rüstung, aber sein Schwert steckte im Gürtel. Ehe wir ein Wort wechseln konnten, erscholl der Werdaruf vom Torhaus.
»Wer wagt es, auf das Tor des Tempels zuzureiten? Steigt ab und nähert euch diesem Ort des Friedens mit gebührendem Respekt!«
Es war die Stimme von Kubo Makoto, einer der jungen Kriegermönche von Terayama, der während der letzten Monate zu meinem engsten Freund geworden war. Ich rannte zum Palisadenzaun und stieg die Leiter zum Torhaus hinauf. Makoto deutete auf das Guckloch. Durch den Spalt im Holz konnte ich vier Reiter erkennen. Sie waren den Hang hinaufgaloppiert und brachten soeben ihre bebenden, schnaubenden Pferde zum Stehen. Die Männer waren in voller Rüstung, doch auf ihren Helmen war das Otoriwappen deutlich zu sehen. Einen Moment lang dachte ich, es wären möglicherweise Boten von Ichiro. Dann fiel mein Blick auf einen Korb, der an einem der Sattelbögen befestigt war. Mein Herz erstarrte. Ich konnte mir allzu gut vorstellen, was sich im Inneren des Korbes befand.
Die Pferde bäumten sich auf und tänzelten unruhig auf der Stelle, nicht allein als Folge des anstrengenden Galopps, sondern auch vor Angst. Zwei von ihnen bluteten bereits aus Wunden an den Hinterbeinen. Von dem schmalen Pfad ergoss sich eine Horde wütender Männer, bewaffnet mit Knüppeln und Sicheln. Einige von ihnen erkannte ich wieder: Es waren Bauern aus dem Nachbardorf. Der Krieger, der die Nachhut bildete, stürmte auf sie los, wild mit dem Schwert um sich schlagend, und die Bauern wichen leicht zurück, blieben aber beieinander und hielten in einem bedrohlich engen Halbkreis ihre Stellung.
Der Anführer der Reiter warf einen verächtlichen Blick in ihre Richtung, dann rief er mit lauter Stimme zum Torhaus hinauf:
»Ich bin Fuwa Dosan vom Otoriclan in Hagi und überbringe von meinen Herren Shoichi und Masahiro eine Botschaft für den Emporkömmling, der sich Otori Takeo nennt.«
»Wenn ihr als friedliche Boten kommt, dann sitzt ab und übergebt uns eure Schwerter. Danach werden wir das Tor öffnen.«
Ich wusste bereits, was ihre Botschaft sein würde. Hinter meinen Augen spürte ich blinde Wut aufsteigen.
»Nicht nötig«, erwiderte Fuwa kalt. »Unsere Botschaft ist kurz. Sagt diesem Takeo, dass die Otori seine Forderungen nicht anerkennen und dass wir mit ihm und allen, die ihm Gefolgschaft leisten, genauso verfahren werden wie in diesem Fall hier.«
Der Mann an seiner Seite ließ die Zügel sinken, öffnete den Korb und entnahm ihm genau das, was ich zu sehen befürchtet hatte. Ihn am Haupthaarknoten haltend, schwang er Ichiros Kopf durch die Luft und schleuderte ihn über die Mauer in die Tempelanlagen.
Der Kopf landete mit einem leicht dumpfen Geräusch auf dem blütenübersäten Rasen des Gartens.
Ich zog mein Schwert Jato aus dem Gürtel.
»Öffnet das Tor!«, schrie ich. »Ich gehe zu ihnen hinaus!«
Makoto folgte mir, als ich die Stufen hinabsprang.
Während das Tor geöffnet wurde, wendeten die Otorikrieger ihre Pferde und preschten, ihre Schwerter schwingend, auf die Mauer der
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