Der Glanz des Mondes
zu töten oder einzusperren, was mir eine schäbige Belohnung für seine Hilfe zu sein schien.
»Nun gut«, sagte ich, »aber hier im Tempel bleiben kannst du nicht.«
»Nein«, stimmte er eifrig zu. »Ich muss die anderen holen.«
»Welche anderen, Jo-An?«
»Unsere restlichen Leute. Die, die mit mir herkamen. Einige von ihnen haben Sie damals doch kennen gelernt.«
Ich hatte jene Männer in der Gerberei am Fluss getroffen, wo Jo-An arbeitete, und würde ihre brennenden Blicke, mit denen sie mir nachstarrten, nie vergessen. Was sie sich von mir erhofften, waren Gerechtigkeit und Schutz, dessen war ich mir bewusst. Ich musste an die Feder denken: Gerechtigkeit, das war Shigerus Wunsch gewesen. Dieses Ziel musste ich verfolgen, um sein Andenken zu ehren und auch um dieser Männer willen, die noch lebten.
Jo-An legte erneut die Handflächen aneinander und dankte mit mehrfachem Nicken für die Mahlzeit.
Ein springender Fisch durchbrach die Stille.
»Wie viele sind es?«, fragte ich.
»An die dreißig. Sie halten sich in den Bergen versteckt. In den vergangenen zwei Wochen sind sie allein oder zu zweit über die Grenze gekommen.«
»Ist sie denn nicht bewacht?«
»Es hat Gefechte zwischen den Otori und Arais Männern gegeben. Im Moment herrscht eine Art Pattsituation. Alle Grenzen sind offen. Die Otori haben versichert, dass sie Arai nicht herausfordern wollen oder sich erhoffen, Yamagata wieder einzunehmen. Ihr einziges Ziel ist es, Sie aus dem Weg zu räumen.«
Offenbar hatten alle dasselbe Ziel.
»Unterstützt das Volk sie denn?«, fragte ich.
»Natürlich nicht!«, sagte er, fast ungeduldig. »Sie wissen doch, wen das Volk unterstützt: den Engel von Yamagata. So wie wir alle. Wozu wären wir sonst hier?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihre Unterstützung wollte, konnte jedoch nicht umhin, ihren Mut zu bewundern.
»Danke.«
Seine Antwort war ein Grinsen, das seine fehlenden Zähne entblößte und mich an die Folterqualen erinnerte, die er meinetwegen bereits ausgestanden hatte. »Wir erwarten Sie auf der anderen Seite des Passes. Sie werden uns brauchen, das können Sie mir glauben.«
Ich ließ die Wachen das Tor öffnen und verabschiedete mich von ihm. Seine schmächtige, gekrümmte Gestalt huschte in die Dunkelheit hinaus. Aus dem Wald erscholl der Schrei einer Füchsin, wie ein Geist, der Qualen litt. Ich schauderte. Jo-An schien von irgendeiner starken übernatürlichen Kraft geleitet zu sein, die ihn festigte. Und obwohl ich nicht mehr an sie glaubte, fürchtete ich ihre Macht wie ein abergläubisches Kind.
Mit einer Gänsehaut kehrte ich zum Gästehaus zurück. Ich legte meine Kleider ab und befahl Manami, trotz fortgeschrittener Stunde, sie wegzubringen, zu reinigen und dann ins Badehaus zu kommen. Sie schrubbte mich von Kopf bis Fuß und ich ließ meinen Körper eine Zeit lang im heißen Wasser einweichen. Beim Anlegen der frischen Kleidung schickte ich den Diener, um Kahei zu holen und beim Abt anzufragen, ob wir ihn sprechen könnten. Es war bereits die erste Hälfte der Stunde des Ochsen.
Ich traf Kahei im Gang, berichtete ihm kurz, was geschehen war, und ging mit ihm zum Abt. Den Diener schickte ich wieder fort, um Makoto zu verständigen, der im Tempel die Nachtwache hielt. Wir entschieden, die gesamten Truppen so schnell wie möglich aufbrechen zu lassen, nur eine kleine Gruppe von Reitern sollte für einen Tag als Nachhut in Terayama verbleiben.
Kahei und Makoto gingen sofort in das Dorf jenseits des Torhauses, um Amano und die anderen Männer zu wecken und mit dem Packen von Proviant und Ausrüstung zu beginnen. Der Abt beauftragte Bedienstete mit der Benachrichtigung der Mönche, er wollte zu dieser späten Stunde das Läuten der Tempelglocke vermeiden, weil dies ein Warnsignal für feindliche Späher hätte sein können.
Ich begab mich zu Kaede. Sie erwartete mich bereits, ihr Haar, das ihr den Rücken herabfiel, umhüllte sie wie ein Mantel, hob sich pechschwarz vom elfenbeinfarbenen Stoff ihres Nachtgewands und ihrer weißen Haut ab. Ihr Anblick verschlug mir wie immer den Atem. Ganz gleich, was je mit uns geschehen mochte: Den Frühling, den wir gemeinsam verbracht hatten, würde ich niemals vergessen. Mein Leben erschien mir als eine Fülle unverdienter Segnungen, doch diese war von allen die größte.
»Manami sagte mir, ein Ausgestoßener sei gekommen und du hättest ihn hereingelassen und mit ihm gesprochen.« Ihre Stimme klang genauso entsetzt wie die ihrer
Weitere Kostenlose Bücher