Der Glasmaler und die Hure
Armen in Wittenberg empfangen und sie so herzlich wie eine Schwester aufgenommen. Den gesamten Winter über hatte Sebastian seine Unterkunft mit ihnen geteilt. Martin und Thea hatten den Troß im Frühjahr des vergangenen Jahres verlassen, nachdem Theas Wunde verheilt und sie in der Lage war, die Strapazen einer längeren Reise auf sich zu nehmen. Im Juni hatten sie Wittenberg erreicht. Eine Zeit der Ruhe war für sie angebrochen. Sie genossen die Monate, die sie, unbelastet von den Schrecken, die hinter ihnen lagen, verbringen konnten. Martin bemühte sich, Thea das Lesen und das Schreiben beizubringen. Mittlerweile führte sie die Feder bereits recht sicher, und es bereitete ihr auch großes Vergnügen, sich über Stunden in einem der Folianten zu verlieren, die Sebastian in einer Truhe aufbewahrte und die er ihr, wann immer sie danach verlangte, zur Verfügung stellte.
Im Laufe der Zeit hatte Martin immer öfter davon gesprochen, nach Magdeburg zurückzukehren. Vor allem als Thea ihm zu Beginn des neuen Jahres eröffnet hatte, daß sie ein Kind erwarte, nahm diese Idee Gestalt an. Martin und Sebastian hatten sich mit dem neugebildeten Magdeburger Rat in Verbindung gesetzt und sich den Grundanspruch ihrer Familie bestätigen lassen. Zudem erwirkten sie einen Kredit zu äußerst günstigen Konditionen, denn die Familie Fellinger besaß unter den Ratsherren nach wie vor einen guten Namen.
Martin stieg vom Kutschbock und hob Thea herunter. Immer wenn sie sich streckte, spürte sie ein Zwicken der Narben. Vor allem seit sich ihr Bauch zu wölben begann und sich die Haut spannte, wurde sie oft an den schicksalhaften Tag von Lützen erinnert.
Der Kater Julius sprang ebenfalls vom Wagen und schmiegte sich an ihre Beine, während sie mit Martin und Sebastian auf die Trümmer zutrat.
Martin schaute sich um und deutete auf eine bestimmte Stelle.
»Es ist ganz sicher der Platz, an dem sich unser Haus befand. Dort drüben kann ich den Kellereingang erkennen. Auch die Grundmauern sind noch auszumachen.«
»Auf diesem Fundament werden wir ein neues Haus errichten«, meinte Sebastian. Er sprühte regelrecht vor Tatendrang. »Wir räumen den Keller frei und nutzen ihn als Schlafplatz. Ich werde in den nächsten Tagen die Zunftmeister aufsuchen und Handwerker anwerben. Bis zum Winter haben wir dann endlich wieder ein Dach über dem Kopf.«
Martin setzte sich auf einen verkohlten Holzbalken und ließ seinen Blick wehmütig über die Trümmer streifen.
»Unser Kind wird in diesem Haus geboren werden«, sagte Thea und hockte sich neben ihn.
»Und es wächst in Magdeburg auf. In einem neuen Magdeburg.« Martin lächelte. »Bis dahin werde ich mich entscheiden müssen, ob ich meine Familie als Wundchirurg oder als Glasmaler ernähren will.«
Thea nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Laß dir Zeit, Martin.«
Nachwort
Die Zerstörung Magdeburgs im Mai des Jahres 1631 gilt als das finsterste Ereignis des Dreißigjährigen Krieges. Bis heute ist nicht eindeutig bewiesen worden, wer die Hauptschuld daran trägt, daß die reiche Elbestadt im Feuer unterging. Häufig wird der katholische Feldherr Tilly zum Urheber dieser Tragödie abgestempelt, wenngleich diese Tat jeder militärischen Logik widerspricht, denn Tilly war nicht angetreten, um Magdeburg niederzubrennen, sondern um die Stadt als Stützpunkt für sein hungerndes Heer und als Basis gegen den schwedischen Brückenkopf im Norden Deutschlands einzunehmen.
In diesem Roman habe ich die Annahme aufgegriffen, daß der Befehl zur Zerstörung der Stadt von ihren radikalprotestantischen Verteidigern ausging. Der vom schwedischen König entsandte Stadtkommandant Dietrich von Falkenberg scheint neueren Erkenntnissen zufolge zu keinem Zeitpunkt in Betracht gezogen zu haben, Magdeburg den gegnerischen Truppen zu überlassen. In einer Briefarchivalie, die Ende des 19. Jahrhunderts im Stammsitz seiner Familie gefunden wurde, schrieb Falkenberg kurz vor dem Fall Magdeburgs an seinen Bruder Johann: »Kann ich die Stadt nicht halten, so stecke ich morgen das ganze Nest an.«
Schon Tage vor der Erstürmung hatte er das Geschützfeuer aus einem angeblichen Mangel an Pulver einstellen lassen, jedoch wurden nach der Katastrophe auf dem zentralen Marktplatz fünfzig Zentner vergrabenes Sprengpulver gefunden. Auch in zahlreiche Häuser waren Minen geschafft worden. Zeitgenössische Quellen sprechen von etwafünfzig Brandherden, die zeitgleich in der Stadt ausbrachen, nachdem die
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