Der glücklose Therapeut - Roman
die entsprechenden Läsionen. Doch durch die Umwelt ausgelöste Halluzinationen – ›Jemand verfolgt mich‹ – korrelieren in keiner Weise mit der Umwelt. Diese Halluzinationen haben nichts mit der Umwelt zu tun und sind deshalb wertlos bei dem Versuch, die Umgebung des Patienten zu verstehen. Heute glauben wir, dass sich in der Überzeugung, Halluzinationen zu haben, eher ein Ausdrucksproblem zeigt; ein mangelnder Ausdruck, kein mangelnder Eindruck. Die Sprache des Innern ist eine Art Handeln. Wie sich zeigt, können unsere Patienten nicht zwischen ›Handlung‹ und ›Handelndem‹ unterscheiden. Es gibt ›Sprache‹, aber kein ›Ich spreche‹. Deshalb muss der Sprecher gefunden werden, und wenn nicht ich es bin, dann muss es ein anderer sein. « Er verstummte und sah mich an. » Was für eine Art Halluzinationen hat der Patient Ihres Freundes? «
» Visuelle. Er hat in seinem Zimmer einen Indianer gesehen. «
» Hört er Stimmen? «
» Das auch. «
» Körperliche Empfindungen? Ein Kribbeln unter der Haut? «
» Wurde nicht berichtet. «
» Ah, dann können wir annehmen, dass er vernachlässigt wurde, vielleicht auch sexuell missbraucht, aber nicht geschlagen. «
» Woher wissen Sie das? «
» Wenn jemand geschlagen wurde, tendiert er eher zu taktilen Halluzinationen. «
» Und weiß der Patient, dass er Halluzinationen hat? Wie weit ist ihm das bewusst? «
» Während er halluziniert, ist seine ganze Konzentration voll darauf gerichtet, und er nimmt äußere Reize kaum wahr. Ein Wettbewerb um die Ressourcen, Jingele; wenn unser inneres Drama unsere ganze Energie verschlingt, bleibt nichts mehr übrig, um auf die Welt draußen zu reagieren. Daraus ergibt sich eine Abwärtsspirale. Haben Sie schon mal etwas vom Bonnet-Syndrom gehört? Ältere Menschen, die ihre Sehkraft verloren haben, berichten von visuellen Halluzinationen. Das kann behandelt werden, mit Antidepressiva, wie sich herausgestellt hat. Aber sie wissen, dass sie halluzinieren. Weiß es auch Ihr Patient? Das kann man nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht weiß er es und weiß es auch wieder nicht. Ist Ihnen dieser Zustand vertraut? Vielleicht sind Sie zu jung … ach, wie auch immer; wir wissen das seit einer Ewigkeit. Alfred Binet, der IQ -Typ, hat das bereits 1884 gezeigt – Halluzinationen funktionieren wie Realität. Nehmen wir an, der Patient halluziniert einen Gegenstand in der Zimmerecke. Wenn Sie diesen Gegenstand hinter einem Vorhang verstecken, wird der Patient diesen Gegenstand nicht mehr sehen. Und farbenblinde Patienten sehen keine bunten Halluzinationen. «
» Und wie steht es mit Lügen? «
» Lügen? «
» Manche Patienten lügen. Sie wissen schon, Help, erzählen Geschichten. Der schizophrene Patient – lügt er? «
» Eine gute Frage. Das wurde bisher kaum erforscht, fürchte ich. Ich würde sagen, im Rahmen einer Psychose gibt es keine Lügen. Was in einer psychotischen Episode herauskommt, ist die Wahrheit dieser Episode. Aber dazwischen, in den klaren Momenten, ist der schizophrene Patient ein Mensch wie jeder andere auch. Deshalb lügt er. Aus Angst, oder um Schande zu vermeiden. Kennen Sie die alte Geschichte von dem Mann, der zu einem Vorstellungsgespräch für einen Regierungsposten der höchsten Sicherheitsstufe antritt? Er wird gefragt: ›Rauchen Sie?‹ Er antwortet: ›Nein.‹ ›Spielen Sie?‹ ›Nein.‹ ›Sind Sie ein Frauenheld?‹ ›Nein.‹ ›Sie haben also keine Schwächen?‹ ›Eine‹, sagt er. ›Ich lüge.‹ Das ist ein diagnostisches Rätsel. Ein Patient, der lügt, hat dafür seine eigenen Gründe. Vielleicht repräsentiert die Lüge den gesunden Teil. Er lügt, weil er ganz genau weiß, dass die Wahrheit ihm gesellschaftlich schadet und ihm Ärger einträgt oder eine Einweisung ins Krankenhaus … Wie wir alle lügt er vielleicht, um nicht ein Etikett verpasst zu bekommen oder um Zurückweisung zu vermeiden. «
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte. Dann griff er nach seinem Wasserglas.
» Halluzinationen haben ihre eigene Logik. Das ist klar. Es gibt eine Logik, und es gibt Grenzen. Das ist der Schlüssel. Auf den ersten Blick wirken sie chaotisch. Zufällig. Doch wir verstehen dieses Zufällige, dieses Chaos nicht. Was wie zufällig aussieht, ist gewöhnlich nur eine uns unbekannte Ordnung. Und umgekehrt: Was geordnet aussieht, repräsentiert nicht die Ordnung der Welt, sondern die Spezifika unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten. Haben Sie sich je darüber
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