Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
Vom Netzwerk:
gewundert, warum Schizophrene immer zu denselben Motiven zurückkehren … Jesus, Gott? Ohne dass es sich dabei um besonders religiöse Menschen handelte, weder in Bezug auf ihren Hintergrund noch auf ihre Erziehung. Warum kommen sie immer wieder auf Gott zurück und nicht, sagen wir, auf den Hausmeister? Es handelt sich um verletzliche Menschen. Im Alltag kann ein jeder sie willkürlich bedrohen und in Verwirrung stürzen, und trotzdem kommen sie immer wieder auf Gott zurück. Es existiert also eine Art Ordnung. Daneben frage ich Sie, ob Ihnen je aufgefallen ist, dass jemand, der behauptet, er sei eine Reinkarnation, in seinem früheren Leben immer ein Prinz war oder ein General? Noch nie war jemand in seinem früheren Leben Sportlehrer an einer Highschool in Cleveland. Noch taucht ein Highschool-Sportlehrer je in den Halluzinationen eines Schizophrenen auf. «
    Helprin verzerrte das Gesicht zu seiner lächelartigen Fratze und klopfte sich mit der Hand auf den Schenkel. » Wie dem auch sei, Jingele, wir wissen, dass wir Zufälle nicht verstehen. Vor langer Zeit, als ich noch unterrichtet habe, habe ich den Studenten einen Streich gespielt. Ich habe sie in zwei Gruppen eingeteilt. Die einen habe ich gebeten, fünfzig Mal eine Münze zu werfen, und die anderen, fünfzig Münzwürfe nachzuahmen, eine zufällige Reihenfolge. Dann verließ ich den Raum. Sie schrieben ihre Reihenfolgen an die Tafel. Als ich wieder zurückkam, versuchte ich zu erraten, welche Reihenfolge durch die echte Münze entstanden war, und irrte mich natürlich nicht ein einziges Mal. Denn die Studenten, die versuchten, den Zufall vorzutäuschen, hatten nicht die leiseste Ahnung von den elementaren Fakten, die dem Zufall zugrunde liegen: Zufall sieht überhaupt nicht zufällig aus. Wenn man fünfzig Mal eine Münze wirft, erhält man sechs, sieben Mal hintereinander Kopf oder Zahl, und der Mensch will darin eine Ordnung, irgendein Muster erkennen … ha ha, verstehen Sie, was ich meine? Können Sie mir folgen? «
    » Ich versuche es « , sagte ich. » Die Jahre haben Sie nicht langsamer werden lassen, Help … «
    » Die Jahre … im Gegenteil, die Jahre müssen mich beschleunigen, denn meine Zeit läuft ab, ich falle auseinander, ist das nicht offensichtlich? Und die Antwort ist beinahe mit Händen zu greifen. «
    » Wirklich? Vielleicht halluzinieren Sie « , sagte ich. » Vielleicht hören Sie Stimmen. «
    Er sah mich durch seine zerkratzten Brillengläser an und hielt einen Augenblick inne. » Und Sie, Jingele? « , sagte er schließlich. » Hören Sie manchmal Stimmen? Ich wette, dass Sie in diesem Moment in Ihrem Kopf eine Stimme hören; just in diesem Moment hören Sie, wie sie sagt: ›Ich bedaure, dass ich Helprins Labor verlassen und mein Talent verschleudert habe, dass ich meine Tage damit verbracht habe, mir mit gerunzelter Stirn die albernen Launen von Buchhaltern mittleren Alters anzuhören, die plötzlich entdeckt haben, dass der Tod das Ende des Lebens bedeutet …‹ Ja, Sie hören diese Stimmen, und Sie sagen sich: ›Das ist meine Stimme. Das bin ich, der Selbstgespräche führt und mir selbst wegen meiner Dummheit die Leviten liest.‹ Aber wissen Sie was? Woher kommt diese Sicherheit? Dass diese Stimme aus Ihrem Innern kommt? Es handelt sich um einen Glauben. Das ist alles purer Glaube. Die schizophrenen Patienten hier in dieser Klinik, von denen Sie sich an einige vielleicht noch erinnern können, auch sie hören in ihrem Innern Stimmen, glauben allerdings, es sei die Stimme Gottes. Ihr Glaube ist genauso stark wie Ihrer. Warum sollte das auch nicht so sein? Ha? Doktor Winter? Vielleicht handelt es sich bei dieser Stimme, die Ihnen sagt, dass Sie Ihr Leben weggeworfen haben, statt mit Helprin zusammenzuarbeiten, tatsächlich um die Stimme Gottes! Haben Sie je darüber nachgedacht? Glaube ohne tatsächliche Grundlage, haben wir davon in unserer Welt nicht genug? Wenn genügend Menschen an etwas glauben, dann ist das nicht unbegründet; es wird zu einer Grundlage, einer sozialen Grundlage. Was wie irrationales Verhalten aussieht, kann gewöhnlich erklärt werden, wenn man die Anthropologie zu Rate zieht. Hochhackige Schuhe? Das ist doch eigentlich Irrsinn. Aber die Gesellschaft, Jingele, schafft Normalität. Nicht das Individuum. Nicht die Familie. Und die Gesellschaft produziert Wahnsinn. Nicht das Individuum. Nicht die Familie. Kein Gehirn ist kulturunabhängig. Die Gesellschaft ist Gott. Wir meinen, Denken komme von Materie,

Weitere Kostenlose Bücher