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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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den Schreibtisch; seine geschwollenen, verkrümmten Zehen sprossen daraus hervor wie exotische Waldpilze. » Unser Blick wird gefiltert: durch unsere Stimmung, unsere Erfahrungen, Erwartungen, Ziele und Hoffnungen, durch Klischees. Vor Jahren, wissen Sie, hat man eine Studie durchgeführt, sie wurde ›Pygmalion im Klassenzimmer‹ genannt. Man ging in eine Schule und machte ein paar Tests, nannte ein paar der Kinder dann ›Frühstarter‹ und ›besonders vielversprechend‹. Nach einer gewissen Zeit kam man wieder und stellte fest, dass die Kinder, die man als ›Frühstarter‹ bezeichnet hatte, tatsächlich schneller vorangekommen waren als andere. Doch die Wissenschaftler hatten diese Kinder willkürlich ausgewählt. So ist es, Jingele; sobald ein Etikett vorhanden ist, wird alles unter diesem Etikett betrachtet. Und Etiketten sind schwer zu ändern. Alles ist schwer zu ändern. « Er kicherte und rückte seine Brille zurecht. » Es gibt einen alten Witz – ein Patient kommt zum Psychiater und sagt: ›Ich habe ein Problem.‹ ›Was für ein Problem?‹ ›Ich bin tot.‹ ›Sie sind tot?‹ ›Tot‹, antwortet der Patient. Daraufhin sagt der Psychiater: ›Ich nehme an, Tote bluten nicht, das weiß schließlich jeder.‹ ›Ja‹, nickt der Patient. Dann nimmt er eine Nadel und sticht den Patienten in den Finger. Es fängt an zu bluten. Der Patient blickt überrascht auf seinen Finger und sagt: ›Wissen Sie was, Doktor? Tote bluten doch!‹ «
    Judy trat mit zwei Kaffeetassen und einigen zerknitterten Zuckertütchen in der Hand ins Zimmer.
    » Trinken Sie keinen? « , fragte ich sie.
    » Nein, danke, Kaffee macht mich ganz zittrig « , sagte sie und war schon beinahe wieder draußen.
    » Die Diagnose, Help « , sagte ich. » Gibt es eine Möglichkeit, eine Depression von einer bipolaren Störung oder einer Psychose zu unterscheiden? Hat man, abgesehen von den sich überschneidenden Symptomen, eine Möglichkeit gefunden? «
    Er kratzte sich die Wange, die mit stachligen weißen Stoppeln bedeckt war, eine Erinnerung daran, dass seine Frau nicht mehr da war. » Nein « , sagte er. » Und weil wir keinen Lackmustest haben, keinen Labortest, ist das Einzige, was wir tun können, das Zutreffen der von uns geschaffenen Kategorien zu überprüfen, und nicht notwendigerweise das Vorhandensein eines Zustands, den sie einzufangen behaupten: klinische Vorgeschichte, familiäre Vorgeschichte, Beobachtungen; es sind primitive Werkzeuge. Sie kennen bereits die Grenzen der Beobachtung … und wir sehnen uns nach Schlichtheit. Schizophrenie auf der einen Seite und Bipolarität auf der anderen, so lauten die Kategorien. Doch in Wirklichkeit ist Grau die vorherrschende Farbe. Eine exakte Trennungslinie ist nirgends zu finden. Statt eines ›Wenn nicht das, dann das‹ bekommen wir nur ein ›Dies und das‹; deshalb ist all dieses nosologische Getue nichts als leeres Geschwätz. «
    Plötzlich erhob er sich auf seinen mageren, zittrigen Beinen, schob mit dem Zeigefinger die Brille zurecht und begann, in den Papieren auf seinem Schreibtisch zu wühlen. » Die Wahrheit liegt irgendwo hier, in den Daten. Die Bestie hält sich im Dschungel versteckt. Die Antwort wird irgendwann ans Licht kommen … « Er betrachtete versonnen die Stapel aus Papieren, Zeitschriften und Büchern und ließ sich dann mit einem Seufzer wieder auf seinen Stuhl zurücksinken. » Unsere besten Denker sind in diesem Strudel untergegangen. Vielleicht werden die Jungen mit dem Google mehr Erfolg haben. Aber passen Sie auf, Jingele « – er sah mich mit müden Augen an –, » jeder ist auf der Suche nach Heilung und Behandlung, während die Krankheit selbst noch gar nicht identifiziert ist; die Bestie, die man zu zähmen versucht, wurde bisher weder eingefangen noch je wirklich gesehen. Wir jagen Schimären nach. Wer halluziniert hier also, die Patienten oder wir? Wer, hm? «
    Er verstummte und lehnte sich schwer atmend zurück. » Das ist ein Witz, Jingele « , sagte er schließlich. » Sie sollten lachen. «

28
    A n diesem Samstag hielt ich nach dem Besuch bei meinem Vater im Pflegeheim bei der Werkstatt meines Bruders.
    » Wie steht’s? « , fragte er. » Wie geht’s Dad? «
    » Ganz gut « , sagte ich.
    Jeffrey war kein Mensch, der sich einmischte, zumindest nicht, wenn es um meine Angelegenheiten ging. Als ich ihm nach Alex’ Auszug davon erzählte, hielt er kurz in seiner Arbeit an einem widerspenstigen Reifen inne, richtete sich auf und sah

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