Der Gluecksmacher
ehemaligen Hausboten ausgebrochen sei.
Nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatten, standen Sophie und Sebastian dicht nebeneinander. Gemeinsam hängten sie frisch gewaschene Wäsche zum Trocknen auf.
»Vermisst du die Versicherung?«
Dimsch reagierte nicht, er schien völlig in die Arbeit vertieft zu sein. Kurz beobachtete Sophie ihn, schmunzelte dann und nahm das nächste Wäschestück.
Wäre ihre Stimme durchgedrungen zu ihm, Dimsch hätte nicht zu sagen vermocht, wo seine Gedanken eben gewesen waren. Womöglich bei den geschlossenen Augenlidern seiner beiden Kleinen, ihrem ruhigen Atem, ihrem Duft. Womöglich bei den letzten Worten, die sie geseufzt hatten vor dem Versinken in den Schlaf. Soeben jedenfalls war er bei ihren Socken angelangt, den winzigen, kunterbunten Socken seiner Kinder. Er nahm weder den Verkehrslärm wahr, noch bemerkte er die Stubenfliege, die ihn umflog. Dimsch war so glücklich, dass er es nicht bemerkte.
Die Fliege indes zog in Vorfreude eine weitere Schleife, zögerte den wunderbaren Moment hinaus, in dem sie diesegrandiose Aussichtsplattform ansteuern würde. Luftig drehen würde sie sich, das Leben tanzend unter ihre Flügel nehmen!
Ja, jaaa! Jetzt!
Da kitzelte es Dimsch an der Nase.
Leseprobe aus
Thomas Sautner
Milchblume
Roman
ISBN 978-3-7466-2823-3
221 Seiten, Broschur
1.
Jakob trug ein wackeliges Blechgestell auf dem Kopf und ging rückwärts. Ein breites Metallband umfasste nicht nur seine Stirn, sondern auch versehentlich eingezwängte Strähnen seines struppigen, flachsblonden Haars. Die Haarspitzen kitzelten Jakob im Gesicht, besonders um die Nase und an der Oberlippe. Am Metallband hatte er ein ausladendes Gestänge befestigt und daran den runden Rasierspiegel seines Vaters, des Seifritz-Bauern. Jakob selbst hatte sich die spektakuläre Vorrichtung ausgedacht. So konnte er im Spiegelbild sehen, wohin sein Weg ihn führte. Schließlich wollte er sich das Verkehrtgehen nicht unnötig erschweren. An diesem frischen Augustmorgen des Jahres 1957 waren zwei weitere Einwohner von Legg vor Morgengrauen aus den Betten gekrochen. Wie Jakob hatten sie den unteren Teil des im Mondlicht liegenden Dorfes hinter sich gelas-sen, waren an verblühten Erdäpfelackern entlanggestapft und hatten schließlich den Eigenwald an seinem spitz zu-laufenden Ende durchquert, um auf die große Bachwiese zu gelangen. Jetzt hockten sie, der Bürgermeister und der Wirt, keine hundert Meter von Jakob entfernt auf dem Hochstand, die Flinten bereit, und warteten darauf, dass der dichte Bodennebel die taunasse Wiese freigeben würde. Jakob tat indes Schritt für Schritt, die Beine weit höher hebend, als es in der wadenhohen, tieffeuchten Wiese nö-tig gewesen wäre. Bloßfußig, die grobe Stoffhose bis über die Knie gekrempelt, stelzte er ins kalte, weiche Nass der Wiese. Weit ausholende, balancierende Ruderbewegungen der Arme begleiteten seine Tritte, und immer wieder schmatzte und schlappte es, wenn Wasser, Grashalme und Kräuter ihrenengen Weg durch seine Zehen fanden. Jakob versuchte, jede Hektik aus seinen Bewegungen zu nehmen. Weich und fließend wollte er im Rückwärtsgehen dahingleiten, wollte erleben, wie es ist, vorwärts zu kommen beim Zurückgehen, und ob Rückschritte es womöglich erlaubten, der Zeit zu entgehen. Dumm nur, dass er immer wieder nach oben greifen musste, um seine schwankende Vorrichtung zu justieren.
»Das gibt’s nicht!« Der Bürgermeister stieß den Wirt mit dem Ellenbogen an. »So ein Trottel«, zischte er, wies mit dem Doppelkinn die Richtung an und hob den Fernstecher wieder vor die Augen.
»Ein Wahnsinn«, sagte der Wirt, als er Jakob durch den Nebel erkannte. »Was hat der Idiot da auf seinem verfluchten Schädel?«
Beide konzentrierten ihren Blick.
»Eine Krone«, befand der Bürgermeister, wandte sich dem Wirt zu und stellte halb verblüfft, halb amüsiert fest: »Eine Krone. Der Narr trägt jetzt eine Krone.«
Pralles Grinsen legte sich über das Gesicht des Wirts, und seine schmalen Augen verrieten, dass ein Gedanke zustande gekommen war. »Ob die Krone wohl gut sitzt?«
Der Bürgermeister zögerte, aber nicht lange, und dann legten die beiden ihre Flinten an.
In diesem Moment bemerkte Jakob einen Rehbock im Spiegel, äsend und wunderschön. Gleich darauf fielen in kurzer Folge zwei Schüsse. Der Rehbock erschrak, sprengte davon Richtung Wald. Jakob fiel zu Boden, lag gestreckt im nassen Gras.
Die Vorrichtung war ihm vom Kopf gefallen.
Weitere Kostenlose Bücher