Der goldene Kelch
stand auf. Er nahm die Schafshaut von den Haken, leerte ihren Inhalt in eine Tonschale und befestigte die Haut wieder an der Tischkante. Als er gerade mit der Tonschale in den Hof gehen wollte, rief ihn die tiefe, weiche Stimme Rekhs zurück.
„Warte, Ranofer! Du hast vergessen, dein Gold zu wiegen.“
„Ich habe doch nur Abfälle hier, Neb Rekh. Die soll ich wiegen?“
„Ja, auch sie müssen gewogen werden. Hast du denn nicht gehört, was ich heute Morgen… Ach, nein, ich hatte dich ja zur Straße der Töpfer geschickt, um Tiegel zu holen.“ Rekh seufzte. Er erhob sich von seinem Schemel und hinkte zu Ranofer hinüber, das goldene Ornament hielt er immer noch mit der Kupferzange fest; ein müder, aber gütiger Blick lag auf seinem breiten Gesicht. „Seit ein paar Monaten stimmen unsere Messergebnisse am Ende der Woche nicht mehr mit denen am Wochenanfang überein. Es fehlt Gold. Und zwar immer so wenig, dass wir erst dachten, die Waage ginge falsch. Aber es ist nicht die Waage.“
Ranofer war bestürzt. „Es fehlt Gold? War ein Dieb da in der Nacht, Neb Rekh?“
„Nein, die Wachen haben auf alles ein Auge, und die Siegel des Lagerraums waren nicht gebrochen. Einer meiner Arbeiter bestiehlt mich.“
„Ein Arbeiter? Aber wie? Wie könnte er – “
„Es gibt viele Möglichkeiten, ein paar Goldklumpen zu verstecken, du Unschuldsengel“, warf der Erste Geselle mit düsterer Miene ein.
„Ja“, stimmte ein Lehrjunge zu. „Ich habe gehört, dass manche Diebe die Barren im Mund verstecken.“
„Oder unter den Riemen ihrer Sandalen“, sagte ein anderer.
„Oder in einem Brotlaib.“
„Es gibt so viele Möglichkeiten, wie es Diebe gibt“, sagte Rekh müde. „Wir müssen denjenigen finden, der uns das Leben schwer macht. Dazu müssen wir jedes Körnchen Gold täglich wiegen, auch die Feilung. Wir müssen den Dieb bald dingfest machen.“
Ranofer stand da wie angegossen, die Schale in seiner Hand hatte er vergessen. Ihm kam ein schrecklicher Verdacht. Wer von den Arbeitern würde Gold stehlen? Wer war hinterhältig und gemein genug? Nur Ibni, der Babylonier! Es war ein Leichtes, sich vorzustellen, wie er seine käsige, schweißige Hand mit den schmutzigen Fingernägeln verstohlen ausstreckte. Aber beweisen konnte Ranofer seinen Verdacht nicht. Der Goldschmied packte Ranofer leicht an der Schulter und schüttelte ihn sanft. „Was ist denn mit dir los, Junge? Bist du müde, oder hat’s dir die Sprache verschlagen?“
„N-nein, Neb Rekh.“ Ranofer zögerte, er sah seinen Meister mit sorgenvollem Blick an. Rekh war kein auffälliger Mann, in Aussehen und Statur glich er Hunderten von anderen Männern; er hatte einen Bauchansatz und er hinkte, weil er sich vor langer Zeit den Fuß mit heißer Goldschmelze verbrüht hatte. Das Falkenornament, das er in der Zange hielt, war nicht schöner als das der meisten anderen Goldschmiede Thebens. Er war kein Genie wie Djau, und er war kein Künstler wie Ranofers Vater Thutra, er war einfach ein rechtschaffener, netter Handwerker, der betrübt war, weil man ihn hinterging.
„Nein, es ist nichts, verehrter Meister“, murmelte der Junge. „Ich frage mich nur, welcher Schuft es übers Herz bringt, einen so guten Menschen zu bestehlen.“ Rekhs gütiges Gesicht glättete sich vor Freude. Er war es nicht gewöhnt, „verehrter Meister“ genannt zu werden, nicht einmal von seinem untersten Gehilfen. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Ranofer. Aber vergiss nicht, die Feilung zu wiegen, damit wir es diesem Dieb in Zukunft so schwer wie möglich machen. Geh jetzt – “ Rekh hielt inne und runzelte die Stirn. Langsam strich er mit der Hand über die nackte Schulter des Jungen und drehte ihn zu sich. „Was ist das? Schon wieder ein, nein, zwei Striemen auf deinem kleinen Rücken? Wer schlägt dich? Du hast erst letzte Woche – “
„Niemand! Es ist nichts!“ Ranofer wand sich schnell aus Rekhs Griff. „Entschuldige, Neb Rekh, ich muss jetzt das Gold wiegen.“
Rot vor Scham flitzte er um die Werkbank des Zweiten Gesellen und rannte zur Waage. Mit gesenktem Blick wartete er, bis der Waagemeister dem Schreiber das Gewicht zurief, nahm dann seine Schale und lief hinaus. Rekh sah ihm besorgt nach. Ranofers Wunde hatte unter Rekhs Berührung wieder angefangen zu brennen und zu pochen wie ein wütender Teufel, den man aus dem Schlaf gerissen hatte; am meisten aber schmerzte seine Seele. Diese Striemen auf dem Rücken waren so auffällig und so unsäglich
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