Der goldene Kelch
demütigend wie ein Sklavenmal! Dieser Gebu! Die Krokodile sollen ihn fressen! Nun haben es alle gesehen, alle in der Werkstatt, und sicherlich sahen alle auf ihn herab und hielten ihn für einen armen Tropf, einen Duckmäuser und Schwächling, der sich nicht wehren konnte.
Und dann auch noch Ibni! Ranofers Verantwortungsgefühl legte sich schwer wie ein Joch auf seine Seele. Ibni war der Dieb; davon war er überzeugt. Warum, konnte er nicht sagen. Während er Wasser aus dem großen Krug in die Schale mit der Feilung schöpfte, fragte er sich, wie er es beweisen könnte. Dieser Schleimer könnte überall Gold verstecken – im Mund, unter den Riemen seiner Sandalen, in einem Brotlaib. Das musste man sich einmal vorstellen – Gold in einem Brotlaib! Oder in einem Weinschlauch?
Ranofer war wie vom Blitz getroffen. Kalt lief es ihm den Rücken hinunter. In einem Weinschlauch… Vielleicht in einem der Weinschläuche, die er jede Woche nach Hause brachte und die Gebu immer mitten in der Nacht ausleerte, weil es ihm gar nicht um den Wein ging?
Barmherziger Osiris, mach, dass es nicht wahr ist!, betete Ranofer. Dann wäre ja auch ich ein Dieb, auch wenn ich davon gar nichts gewusst hatte. Nein, es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein!
Gerade dieser dünne Barren, den er vor kurzem gegossen hatte, würde ganz leicht in einem Weinschlauch verschwinden…
Er ließ die Kelle in den Wasserkrug zurückfallen und machte sich auf den Weg zu den flachen Waschschüsseln im vorderen Teil des Hofes. Im Vorbeigehen warf er einen kurzen Blick auf die Bank des Drahtziehers. Da! Neben der Ziehplatte lag nur noch ein Barren. Er blieb stehen. Als der Babylonier vorbeigegangen war, um angeblich Wasser zu trinken, lagen noch vier Barren dort. Aus einem war schon eine Rolle Draht gezogen, der zur Härtung bereitlag, einen weiteren fettete der Lehrjunge gerade ein, um ihn zu ziehen. Aber wo waren die anderen Barren? Wo war der dünnste – jener Barren, den man so leicht in einen Weinschlauch stecken könnte?
Automatisch ging Ranofer über den sonnenwarmen Boden zur Bank des Drahtziehers. „Die Arbeit geht dir schnell von der Hand, Hapia’o“, sagte er nervös. „Schnell? Thot sei mir gnädig! Die Zeit vergeht heute so langsam, dass dagegen eine Schnecke Flügel hat! Ich schwör dir, ich ziehe Draht, seit sich der erste Berg aus dem Meer der Zeit erhoben hat, und ich bin immer noch nicht damit fertig.“
„Wirklich? Aber… aber vor kurzem lagen hier auf dieser Bank doch noch vier frisch gegossene Barren. Und nun? Wo sind sie?“
Hapia’o hielt in seiner Arbeit inne. „Wo sollen sie schon sein? Hier und da, sie werden gezogen, geschlagen oder – “ Er packte den Jungen am Arm, seine Augen waren schmal geworden vor Zorn. „Was willst du damit sagen? Beschuldigst du mich etwa des Diebstahls, von dem der Meister sprach?“
„Dich beschuldigen?“, stieß Ranofer bestürzt hervor; offenbar hatte er einen empfindlichen Punkt getroffen. „Niemals käme mir das in den Sinn, Maat ist meine Zeugin! Haben dir die Kheftiu die Sinne geraubt, Freund Hapia’o?“
Der Lehrjunge ließ Ranofers Arm los und stand belämmert da. „Ja, vielleicht hast du Recht. Du hast es bestimmt nicht böse gemeint. Aber wenn es um Diebstahl geht, wird man ziemlich dünnhäutig. Am liebsten wäre mir, der Dieb würde gefasst und wir hätten wieder unsere Ruhe.“
„Und mir erst!“, stimmte ihm Ranofer zu. Er versuchte, ein unbekümmertes Lächeln aufzusetzen, aber seine Hände mit der Tonschale zitterten. Was er wissen wollte, hatte er noch nicht erfahren. „Stehlen ist etwas Gemeines“, sagt er vorsichtig, um nicht noch Schlimmeres anzurichten. „Sicherlich hast du deine Barren heute gehütet wie deinen Augapfel.“
Lachend schob Hapia’o das spitz zulaufende Ende des eingefetteten, länglichen Barrens von hinten durch ein Loch in der Platte, packte es mit der Kupferzange und zog mit aller Kraft daran. „Und ob!“, keuchte er. „Abhi nahm zwei – für Armreifen –, Djoser den kleinen – um eine Platte zu schlagen – und Filigranstreifen zu schneiden.“ Sein Atem ging stoßweise, während er den Draht zog. „Und ich – habe die anderen. Ich werde – heute Abend nicht – zu wenig Gewicht liefern. – Darauf kannst du dich – verlassen!“
„Das glaube ich ja, Hapia’o“, murmelte Ranofer. Djoser hatte also den kleinen Barren. Ranofer ging schnell weiter zu den Waschschüsseln und warf einen Blick auf Djosers Werkbank.
Weitere Kostenlose Bücher