Der goldene Kelch
vielleicht von dir hören machen, wenn du erst deine Lehrzeit hinter dir hast und – “
„Ich bin kein Lehrjunge.“
Heqet drehte sich erstaunt zu ihm um. „Was? Du bist nicht Rekhs Lehrjunge? Was – “
„Was ich hier tue?“ Das hatte sich Ranofer auch schon oft gefragt: Warum hat Gebu mich in diese Werkstatt gesteckt, wo ich doch überhaupt nichts lernen soll? Sofort stand ihm der Weinschlauch vor Augen, als wäre er die entsetzliche Antwort auf diese Frage. Barscher, als er beabsichtigt hatte, sagte er zu Heqet: „Ich bin Gehilfe, gieße Barren, wasche die Feilung, mache Botengänge.“ – Etwa Ibnis Bote?, durchfuhr es ihn wie ein Peitschenhieb. „Ich bekomme fünf Deben im Monat. Du wirst dich nicht lange mit Goldwaschen herumschlagen müssen. Nach einem Monat machen es die Gehilfen für dich. Ich zum Beispiel. Mehr darf ich ja sowieso nicht tun, auch wenn ich genauso gut Draht ziehen und härten kann wie der Erste Geselle. Ich habe sogar schon Armbänder graviert und Becher getrieben.“ Er schüttete Wasser und Gold in seine Schüssel. „Vielleicht waren es keine sehr schönen Becher“, fuhr er bescheiden fort, „aber es waren immerhin Becher.“
Die sind schon lange dahin, fügte er in Gedanken hinzu. Dahin wie alles andere auch – Vaters Haus, der Garten mit den Akazien, die alte Marja, die mir immer Dattelkekse gebacken hat, und die Werkstatt voller Regale, der goldene Brustschmuck und die goldenen Dolche, die an der Wand hingen –, alles dahingegangen wie Vater selbst.
Er konnte sich so gut an die Werkstatt erinnern, dass es ihm schien, als wäre er jetzt, in dieser Minute, dort. Sogar der Duft der Akazienblüten schien von draußen hereinzuwehen und ihm in die Nase zu steigen. Früher hatte er stundenlang an der Werkbank seines Vaters gelehnt und zugesehen, wie dessen kräftige, geschickte Hände mit den langgliedrigen Fingern Schalen trieben, Ornamente gravierten und modische Ketten und Halsbänder von solcher Schönheit und Eleganz formten, dass es eine Augenweide war. Er konnte immer noch das geschmeidige, abgenutzte Holz unter seinen Ellbogen spüren, die Wärme, die die Lampe auf seiner Wange verströmte, während er seinem Vater zusah, sich alles einprägte und dabei unablässig Fragen stellte. In den letzten zwei Jahren seines Lebens hatte der kranke Thutra auf einem Diwan in der Werkstatt gelegen; er hatte Ranofers erste Versuche beim Treiben und Gravieren verfolgt und ihm geholfen, seine Entwürfe zu verbessern. Und wenn Ranofer sich nicht mit der Goldschmiedekunst beschäftigt hatte, war er mit Jati, dem alten Windhund, herumgetollt, oder sein Vater hatte ihm Märchen von Pergamentrollen vorgelesen. Außerdem war Ranofer jeden Morgen in die Schule gegangen und hatte ein wenig lesen gelernt. Das alles war nun vorbei. Sein Leben bestand nur noch aus Hunger und Prügel – und jetzt war da auch noch dieser schreckliche Verdacht und sein Argwohn, was es wohl mit diesen Weinschläuchen auf sich hatte.
Heqet räusperte sich verlegen. „Schlimme Sache, dass du nicht weiterlernen kannst“, sagte er. „Wo wohnst du denn? Du hast keine Eltern mehr und im Lehrlingshaus kannst du auch nicht wohnen.“
Ranofer schwieg. Er starrte auf seine Hände und strich versonnen durch die Goldreste auf dem Tuch. Nach einer Weile sagte er: „Bei Gebu, dem Steinmetz; er ist mein Halbbruder.“
„Oh, du hast ja gar nicht gesagt, dass du einen Bruder hast.“
„Halbbruder!“, betonte Ranofer. Und selbst diese halbe Verwandtschaft gestand er nur widerwillig ein. Bis zum Tod seines Vater an jenem entsetzlichen und traurigen Morgen vor zehn Monaten wusste er nicht mehr über Gebu, als dass irgendwo in Theben der erstgeborene Sohn Thutras lebte, ein Kind aus einer früheren Ehe. Sein Name wurde in Thutras Gegenwart nie erwähnt. Ranofer wrang das nasse Tuch um die Feilung und suchte nach einem anderen Gesprächsthema. Er wollte nicht über diese Dinge sprechen, er wollte nicht einmal daran denken. Er musste schnell etwas sagen, bevor Heqet noch mehr Fragen stellen konnte.
Aber Heqet war schon dabei: „Gut, dann eben Halbbruder. Trotzdem verstehe ich nicht, wieso er dich nicht bei Rekh in die Lehre gibt, wieso er nicht will, dass du so ein guter Goldschmied wirst wie dein Vater.“
„Weil… weil ich eben Geld verdienen muss.“ Fünf Deben im Monat – wo er doch später zwölf verdienen könnte, wenn er die Goldschmiedekunst beherrschte! Die Antwort klang dumm, das wusste er, und widersinnig
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