Der Gott des Todes (Reich der Götter #1) (German Edition)
Azur an etwas, das er verloren hatte. An etwas, das er nie vergessen wollte. Doch das Bild verblasste, weil jemand das Wasser berührte, um es zu verscheuchen.
Unwillig betrachtete er die blutunterlaufenen Augen des älteren Todesengels. Einige Stellen von Kerdis Haut waren schwarz und verfault, doch größtenteils war sie braun und ledrig, getrocknet von der Hitze der Unterwelt. Selbst seine Flügel wirkten wie die einer Fledermaus. Sie waren durchlöchert und so dünn, dass man das Licht durchscheinen sah. Azur hätte nicht geglaubt, dass man damit fliegen konnte, hätte er es nicht schon selbst einmal gesehen.
„Musstest du ihn gleich töten?“, schnauzte er ihn wütend an.
„Ich habe lediglich meine Aufgabe erledigt“, erklärte Kerdis bissig. „Irgendjemand muss schließlich die Seelen der Verstorbenen einsammeln, damit sie in Frieden dahinscheiden können.“ Er hielt ein altes, zerknittertes Stück Pergament hoch, auf dem ein Name stand. Vermutlich der des Mannes vom See. Das Pergament war in der Mitte durchgerissen.
Azur wusste selbst, dass jeder zum Tode bestimmt war, dessen Name vom Gott des Todes niedergeschrieben wurde, doch wurde kein Todesengel dazu gezwungen, ein solches Pergament zu zerreißen. Denn erst, wenn der Name durchtrennt war, konnte sich die Seele vom Körper lösen und das Leben war für immer verloren. In einem Beutel, das an einer Schnur um Kerdis Körper hing, waren noch weitere davon. Jeder Todesengel besaß so einen, selbst Azur, wenngleich seiner schon immer leer gewesen war und es auch immer bleiben würde. Wieso der Gott des Todes diese Pergamente schrieb, anstatt die Menschen selbst zu töten, wusste Azur nicht. Er vermutete jedoch, dass er sich seine Hände nicht mit dem Blut seiner Opfer beflecken wollte.
„Wenn du mich entschuldigst“, sagte Kerdis.
Azur sah ihm dabei zu, wie er kopfüber in den See eintauchte und schließlich verschwand. Es waren nur noch ein paar Wellen zu sehen, die die dunkle Oberfläche kräuselten.
Dies war die einzige Möglichkeit, um in die Welt der Lebenden zu gelangen. Doch was nützte es schon zurückzukehren, wenn man in ihr nicht leben konnte? Wie Geister wanderten die Todesengel herum und sammelten die Seelen. Einen anderen Grund, in die Welt der Lebenden zu gehen, hatten sie nicht. Auch Azur hatte die Unterwelt noch nie verlassen. Doch wenn er in die Welt der Lebenden zurück gehen würde, dann nur als Mensch und nicht als das Monster, das er jetzt war.
Wellen schwappten auf. Kerdis Kopf kam aus dem See empor. Das Wasser floss an seinem nackten, gehörnten Schädel herunter. Er zog sich an dem Gestein hinauf und hielt eine Art Lichtkugel in seiner Hand. Wenngleich Azur noch nie jemanden getötet hatte, so wusste er, dass dies die Seele eines Menschen war. Kerdis streckte sie gen Himmel und ein Luftstrom ließ sie aus seiner Hand gleiten, brachte sie fort zu den vielen anderen. Was dann mit der Seele geschah, wussten selbst die Todesengel nicht. Dies kümmerte sie auch nicht.
„Hättest du nicht länger warten können? Wenigstens bis er ihre Antwort erfuhr?“, fragte Azur.
„Er hatte eine Null. Seine Zeit war abgelaufen. Es steht uns nicht zu, über den Zeitpunkt des Todes zu urteilen, Azura.“
„Ich heiße Azur, nicht Azura“, sagte Azur schroff.
Er war nicht wütend darüber, dass Kerdis seinen Namen vergessen hatte. Vielmehr lag es daran, dass ihm der Mann immer noch leid tat. Im Gegensatz zu dem seinen war dessen Leben nur von kurzer Dauer. Was war da schon ein Augenblick?
„Ach, heute ist es also Azur? So häufig wie du deinen Namen wechselst, fällt es mir schwer, ihn mir überhaupt noch zu merken“, beschwerte sich Kerdis lauthals.
„Mein Name war schon immer Azur und so wird’s auch immer bleiben. Ich werde mich doch noch an meinen eigenen Namen erinnern.“
„Wenn du das sagst, Azur, wird es wohl so sein.“
Kerdis betonte es so, als könnte es einen Zweifel daran geben und das gefiel Azur gar nicht. Für jemanden wie ihn, der mit der Zeit alles vergessen würde, war jede Erinnerung wichtig. Ihm ging es dabei nicht einmal um seinen Namen. Er weigerte sich, die eine aufzugeben, die ihm kostbar war. Ein Bild blitzte in ihm auf. Seine Fingerspitzen, die ihre weichen Lippen berührten. Ein zarter Duft nach Rosen. Er sah zu den Seelen auf und musste wieder an den Mann denken, dessen Leben Kerdis so übereifrig ausgelöscht hatte.
„Hättest du ihm nicht noch diesen einen Moment gönnen können? Ich habe noch
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