Der Gott des Todes (Reich der Götter #1) (German Edition)
KAPITEL 1
SCHICKSALSWETTE
Der Tod kam stets zu früh. Dies galt für alle Wesen, bis auf die, die ihn von sich aus suchten. Schon seit Äonen war Kerdis ein Todesengel. Inzwischen kannte er jedes Sandkorn in der Unterwelt, in die es ihn verschlagen hatte. Auch seine anfängliche Freude an der Macht über die Lebenden hatte sich schon lange gelegt. Seit tausenden von Jahren langweilte er sich unsäglich und je mehr er sich langweilte, desto mehr gierte er nach Abwechslung und Überraschungen.
Wie so oft flog Kerdis über die Ödnis der Unterwelt hinweg, auf der Suche nach etwas Ablenkung. Er glitt auf den Seelenströmen hinfort, die sich durch das gesamte Reich zogen und die Seelen der Verstorbenen transportierten. Sie waren heiße Lüfte in einer ohnehin warmen und staubtrockenen Welt. Nur die dunklen Seen und Moore boten Feuchtigkeit und ermöglichten so das Überleben der wenigen Tiere und Pflanzen an diesem Ort. Trotz der drei Sonnen und des immerwährenden Tages schien nur spärlich Licht durch die dicht bewölkte Himmelsdecke.
Überall flogen Todesengel umher, die meisten stillschweigend in Depression und Trauer versunken. Zwei jedoch stritten lautstark. Ihre Namen hatte Kerdis vergessen, falls er sie je gewusst hatte. Zahlreiche Pfeile zierten den Körper des einen, als schmücke er sich mit ihren bunten Kielen. Dem anderen erging es kaum besser. Eines seiner Augen hing lose herab und baumelte bei jeder seiner Bewegungen hin und her. Die beiden schrien sich voller Inbrunst an und rangelten um ein kleines Wesen, das sie am Seeufer aufgestöbert hatten. Das putzige Geschöpf entlockte Kerdis ein Lächeln, da es ihm in einem Augenblick der Unachtsamkeit gelang den beiden zu entwischen und in ein Loch zu schlüpfen. Die Todesengel sprangen ihm nach. Der von den Pfeilen Durchbohrte versuchte es zu fangen, doch es flutschte ihm aus der Hand. Der andere nahm sein loses Auge und warf es in das Loch , in das das Geschöpf geflohen war.
„Und, siehst du es?“
„Alles dunkel hier drin. Es könnte mittlerweile überall hingelaufen sein.“
„Typisch, deinetwegen ist es mir entwischt!“
„Meinetwegen?“ Behutsam zog er sein Auge wieder heraus, und stopfte es nachlässig an seinen Platz zurück.
„Ja, deinetwegen. Zu schade, dass ich dich nicht töten kann. Zu dumm, dass du nicht ein für allemal stirbst.“ Er schubste den andern. Der schubste zurück. Unbeirrt zerrten und rissen sie sich gegenseitig die wenigen verbliebenen Stofffetzen von ihren Körpern. Und den Grund für ihren Streit hatten sie wahrscheinlich schon vergessen.
Gelangweilt wandte Kerdis sich ab. Es dauerte eine Weile, bis er den Todesengel entdeckte, den er gesucht hatte. Sein roter Mantel verriet ihn schon aus der Ferne, was bei Kerdis ein kleines Lächeln hervorlockte. Rasch näherte er sich dem schwarz spiegelnden Wasser des Sees, an dem Azur saß. Er würde derjenige sein, der seiner Langeweile ein Ende bereiten würde, dessen war Kerdis sich sicher.
Im Gegensatz zu anderen Dämonen sah Azur menschlich aus, denn seine Haut war bisher nahezu unversehrt. Wenngleich sie noch keine Anzeichen des Abfaulens offenbarte, so zeichneten sich schon die ersten Schuppen und Fäulnisstellen deutlich ab. Seine dunkelbraunen Haare waren eine weitere Besonderheit an ihm. Kaum ein anderer Todesengel besaß so viele davon, falls er überhaupt noch welche hatte. Trotz seines menschlichen Aussehens verrieten die Flügel Azurs wahre Natur. Sie ragten aus seinem Rücken heraus, schwarz gefiedert wie die eines Raben. Von Azur unbemerkt landete Kerdis, um ihn still und neugierig zu beobachten.
Azur sah sehnsüchtig und verträumt in den schwarz schimmernden See. Es war nicht irgendein See, das war das Tor zur Menschenwelt. Statt des üblichen Spiegelbildes der toten Umgebung sah man auf der Wasseroberfläche das Bild eines jungen Pärchens. Ein Mann kniete vor einer Frau nieder und ergriff zärtlich ihre Hand. Seine Lippen bewegten sich. Die Worte, die er sprach, konnte Azur nicht hören, doch die Augen des Mannes verrieten, was er sagen wollte.
Mitten im Satz fasste der Mann sich an die Brust. Schmerz verzerrte sein Gesicht. Sein Entsetzen übertrug sich auf die Frau. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Nur wenige Sekunden später fiel der Mann schlaff zu Boden. Sie kniete neben ihm, nahm seinen Kopf in beide Hände und drückte ihren Geliebten an sich, als wollte sie ihn nicht gehen lassen. Tränen rollten über ihre Wangen. Die beiden erinnerten
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