Der Graf von Monte Christo
Schafott.
Oh, mein Gott! rief Renée erbleichend.
Wirklich? fragte einstimmig die ganze Versammlung.
Es scheint, man hat ein bonapartistisches Komplott entdeckt.
Ist es möglich? rief die Marquise.
Hier ist die Denunziation. Und Villefort las den Brief, den Danglars geschrieben, vor.
Dieser Brief, sagte Renée, ist ja nur anonym; auch hat man ihn doch an den Ersten Staatsanwalt gerichtet und nicht an Sie.
Ja, aber der Erste Staatsanwalt ist nicht hier; in seiner Abwesenheit gelangte das Schreiben an den Sekretär, der die Briefe zu öffnen beauftragt war. Er hat also diesen geöffnet, mich suchen lassen, und da er mich nicht fand, Befehl zur Verhaftung gegeben.
Der Schuldige ist verhaftet? fragte die Marquise.
Das heißt der Angeklagte, verbesserte Renée.
Ja, erwiderte Villefort, und wie ich soeben Fräulein Renée zu bemerken die Ehre hatte, ... findet man den erwähnten Brief, so ist die Krankheit sehr gefährlich.
Gehen Sie, mein Freund, sagte der Marquis, versäumen Sie Ihre Pflichten nicht, um bei uns zu verweilen, wenn Sie der Dienst des Königs ruft.
Oh! Herr von Villefort, sagte Renée, die Hände faltend, seien Sie nachsichtig, es ist heute unser Verlobungstag.
Villefort ging um den Tisch und sagte, dem Stuhle des jungen Mädchens sich nähernd, auf dessen Lehne er sich stützte: Um Ihnen eine Unruhe zu ersparen, werde ich alles tun, was ich vermag; aber wenn die Beschuldigung wahr ist, sowird wohl nichts übrig bleiben, als dies schlimme bonapartistische Kraut abzuschneiden.
Renée bebte bei dem Worte abschneiden, denn das Kraut, um das es sich handelte, hatte einen Kopf.
Bah! bah! rief die Marquise, hören Sie nicht auf dieses junge Mädchen, Villefort!
Und die Marquise reichte Villefort die trockene Hand, die er küßte, während er Renée ansah und dieser mit den Augen sagte: Ihre Hand ist es, die ich küsse oder wenigstens in diesem Augenblicke zu küssen wünschte.
Traurige Auspizien, murmelte Renée.
In der Tat, sagte die Marquise, du bist zum Verzweifeln kindisch; ich frage dich: Wie kannst du die Empfindeleien deiner Einbildungskraft und deines Herzens auf Staatsangelegenheiten übertragen?
Oh, meine Mutter, murmelte Renée.
Gnade für die schlechten Royalisten, Frau Marquise, sagte von Villefort, ich verspreche Ihnen, meine Aufgabe als Vertreter des Ersten Staatsanwalts gewissenhaft zu erfüllen, das heißt furchtbar streng zu sein.
Aber während der Beamte diese Worte an die Marquise richtete, warf er zu gleicher Zeit verstohlen seiner Braut einen Blick zu, und dieser sagte: Sei unbesorgt, Renée, um deiner Liebe willen werde ich nachsichtig sein.
Renée erwiderte diesen Blick mit ihrem süßesten Lächeln, und Villefort entfernte sich mit dem Paradiese im Herzen.
Das Verhör.
Kaum hatte Villefort den Speisesaal verlassen, als er seine heitere Miene ablegte und die ernste Maske eines Mannes annahm, der zu dem erhabenen Amt, über das Leben von seinesgleichen zu entscheiden, berufen ist. Trotz der Beweglichkeitseiner Gesichtszüge, die der Staatsanwalt wie ein geschickter Schauspieler vor seinem Spiegel geübt hatte, fiel es ihm diesmal schwer, eine ernste Miene und einen düstern Ausdruck beizubehalten. Abgesehen von der Erinnerung an die politische Laufbahn seines Vaters, die seiner Zukunft in den Weg treten konnte, war Gérard von Villefort in diesem Augenblick so glücklich, als es einem Menschen zu sein vergönnt ist. Schon an sich reich, nahm er mit siebenundzwanzig Jahren ein hohes Amt ein. Er war im Begriff, ein junges hübsches Mädchen, das er liebte, zu heiraten. Neben ihrer Schönheit hatte seine Braut noch den Vorzug, einer von den Familien anzugehören, die am Hofe im höchsten Ansehen standen, und außer dem politisch förderlichen Einflusse ihrer Eltern brachte sie ihrem Gatten eine Mitgift von 50 000 Talern, die sich eines Tages durch eine Erbschaft von einer halben Million vermehren sollte. Dies alles zusammen erhob den Staatsanwalt in einen solchen Zustand von Glückseligkeit, daß er sich jeden Augenblick zusammennehmen mußte, um die gewollte, seinem Amte angemessene Miene zur Schau zu tragen.
Vor der Tür fand er den Polizeikommissar, der auf ihn wartete. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes viel er sofort aus der Höhe des dritten Himmels auf die materielle Erde, auf der wir einhergehen. Er brachte nun sein Gesicht leichter in die gehörige Verfassung, näherte sich dem Beamten und sagte: Hier bin ich, ich habe den Brief gelesen; Sie taten
Weitere Kostenlose Bücher