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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Verzweiflung. »Ich bin eine Menschenfresserin! Dieser Betrüger hat mich dazu verführt, das Fleisch von Kindern zu essen!«
    Die anderen beiden Frauen starrten Deidamia fassungslos an. Bevor Deidamia ihre Worte jedoch näher ausführen
    konnte, sank sie ohnmächtig zu Boden. Ich wußte, was sie meinte, aber trotz meiner Angst hatte ich die
    Geistesgegenwart, zu schweigen. Nach einem Augenblick
    des Schweigens sagte Schwester Elissa: »Wenn
    I diese - diese Person ein Mann ist, wie kommt er dann hierher nach St. Pelagia?«
    »Das frage ich mich auch«, sagte die Äbtissin grimmig.
    So kam es, daß ich wieder einmal meine wenige Habe zu
    einem Bündel schnüren mußte und durch das breite Tal
    nach St. Damian zurückgebracht wurde. Die Äbtissin wies einen Mönch an, mich in einem Nebengebäude
    einzusperren, denn ich sollte nicht hören, wie sie den Abt zur Rede stellte. Doch der Mönch hatte anderes zu tun und ließ mich allein. Ich stahl mich aus dem Gebäude, kauerte mich unter das Fenster der Abtwohnung und lauschte. Die beiden stritten sich laut, und da sie sich unbelauscht glaubten, sprachen sie diesmal nicht Lateinisch, sondern Gotisch.
    »... kannst du es wagen, mir so etwas zu bringen und zu sagen, es sei ein Mädchen?« rief die Äbtissin wütend.
    »Du hast es für ein Mädchen gehalten«, erwiderte der Abt etwas weniger laut. »Du hast alles gesehen, was ich
    gesehen habe, und du bist eine Frau. Kann man mir
    Vorwürfe machen, weil ich mein Keuschheitsgelübde ernst nehme? Weil ich ein Priester bin, der keine illegitimen Kinder gezeugt hat? Weil ich nackte Frauen nur auf dem
    Krankenbett oder dem Totenlager gesehen habe?«
    »Gut, jetzt kennen wir beide die Wahrheit, Clemens, und wir wissen, was zu tun ist. Schicke einen Mönch, um es zu holen.«
    Ich eilte zu dem Nebengebäude zurück, um mich dort
    abholen zu lassen. In meiner völligen Verwirrung konnte ich nur einen klaren Gedanken fassen. Im letzten Jahr hatte ich verschiedene Namen gehabt, aber jetzt hatte mich zum
    erstenmal jemand »es« genannt.
    So kam es, daß ich aus beiden Klöstern verbannt wurde
    und man mir befahl, Balsan Hrinkhen zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Ich würde wegen meiner Sünden
    verbannt, sagte Dom Clemens in einem Gespräch unter vier Augen zu mir, kurz bevor ich ging. Er mußte freilich
    zugeben, daß er selbst nicht genau sagen konnte, um
    welche Sünden im kirchlichen Sinn es sich handelte. Meine persönliche Habe durfte ich behalten, aber der Abt verbot mir, Dinge mitzunehmen, die dem Kloster gehörten. Zum
    Abschied drückte er mir freilich gütig eine Münze in die Hand, einen ganzen silbernen Solidus.
    Außerdem sagte er mir mit unglücklicher Miene noch, wer ich war. Ich sei ein Geschöpf jener Art, die auf Gotisch Mannamawi genannt werden, »Mannfrau«. Ich sei kein
    Junge und kein Mädchen, sondern beides und deshalb
    weder das eine noch das andere. Ich glaube, daß ich in diesem Augenblick aufhörte, ein Kind zu sein, ob nun Junge oder Mädchen.
    Als ich ging, nahm ich trotz der Mahnung des Abtes zwei Dinge mit, die strenggenommen nicht mir gehörten. Ich
    werde später erzählen, um was es sich handelte. Nichts von dem, was ich mitnahm, sollte sich jedoch für mich als von so großem und dauerhaftem Wert erweisen wie das Wissen,
    daß ich in meinem künftigen Leben nie das Opfer der Liebe zu einem anderen Menschen sein würde. Da ich kein Mann war, konnte und würde ich nie eine Frau wirklich lieben. Und da ich keine Frau war, konnte und würde ich nie einen Mann wirklich lieben. Ich würde für immer frei sein von den Fesseln, den zärtlichen Schwächen und der demütigenden Tyrannei der Liebe.
    Ich war Thorn Mannamawi, und kein Mann und keine Frau
    der Welt würden für mich je etwas anderes sein als meine Beute.
    2
    Ich weiß nicht, wann oder wo genau ich zur Welt kam. Für einen, der so weit reisen sollte wie ich, der so viele verschiedene Länder und Völker kennenlernen und so vielen Ereignissen beiwohnen sollte, die den Lauf der
    menschlichen Geschichte nachhaltig beeinflußt haben, und der eines Tages an der rechten Seite des bedeutendsten Mannes unserer Zeit stehen würde, war ich von
    bescheidener, um nicht zu sagen schimpflicher Herkunft.
    Über meine Herkunft weiß ich nur, daß die Mönche der
    Abtei St. Damian des Märtyrers eines Morgens auf ihrer Türschwelle einen Säugling fanden. Dies geschah um das Jahr 1208 nach der Gründung Roms und während der
    kurzen Herrschaft des

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