Der Greif
gesehen. Igitt! Ich sage dir, Schwester Thorn, Männer sind häßlich. Sie haben überall Haare und Muskeln und eine ledrige Haut, wie der große wilde Auerochse. Natürlich stimmt es, daß dieses Teil bei ihnen ziemlich groß ist. Aber es sieht roh und abstoßend aus. Und darunter hängt ein häßlicher, runzliger Ledersack.
Igitt!«
»Stimmt«, sagte ich, »das habe ich bei Männern auch
gesehen, und ich habe überlegt, ob mir auch noch so etwas wächst.«
»Dir nie«, versicherte sie mir. »Ein paar Haare da unten, ja, und zwei schöne Brüste da oben, aber nicht dieser
schreckliche Sack.« Nach einer Pause sagte sie: »Ein
Eunuch hat so einen Sack auch nicht, genausowenig wie wir Frauen.«
»Das wußte ich nicht«, sagte ich. »Was ist ein Eunuch?«
»Ein Mann, dem man den Sack abgeschnitten hat, meist
schon als Kind.«
»Du lieber Gott!« rief ich aus. »Abgeschnitten? Warum
denn das?«
»Damit er kein richtiger Mann mehr ist. Einige lassen es absichtlich mit sich machen, auch noch als erwachsene
Männer. Es heißt, der große Kirchenlehrer Origines habe sich selbst entmannt, damit ihn die Frauen und Nonnen, die er unterrichtete, nicht in Versuchung führen konnten. Viele männliche Sklaven werden von ihren Herren zu Eunuchen
gemacht, damit sie den Frauen des Hauses dienen können, ohne deren Keuschheit zu gefährden.«
»Liegt eine Frau denn nie mit einem Eunuchen
zusammen?«
»Natürlich nicht. Wozu? Aber ich würde mich auch nie im Leben zu einem Mann legen. Selbst wenn ich die Übelkeit überwinden könnte, die schon beim bloßen Gedanken daran in mir hochsteigt, ich dürfte es ja gar nicht. Wenn ich mit dir liege, kleine Schwester, ist das die heilige Kommunion. Mit einem Mann zu liegen, hieße meine Unschuld beflecken,
und die habe ich allein Gott geweiht, damit ich eine richtige Nonne werden kann, wenn ich vierzig bin. Nein, nie werde ich mich zu einem Mann legen.«
»Dann bin ich froh, daß ich eine Frau bin«, sagte ich.
»Sonst hätte ich dich nicht kennengelernt.«
»Und du hättest erst recht nicht mit mir
zusammengelegen.« Sie lächelte entrückt. »Wir müssen das öfter tun, Schwester Thorn.«
Und das taten wir, wieder und wieder, und wir lehrten
einander viele und verschiedene Arten, die Andacht zu
verrichten. Wir waren so vernarrt ineinander, daß wir
beklagenswert sorglos wurden. Eines Tages kurz vor
Winteranbruch befanden wir uns in solchen Wonnen der
Ekstase, daß wir nicht bemerkten, wie sich eine gewisse Schwester Elissa näherte, die für ihre Neugier bekannt war.
Wir bemerkten sie erst, als sie, vermutlich nachdem sie uns eine Weile mit offenem Mund beobachtet hatte, mit der
Äbtissin zurückkehrte. Die beiden fanden uns noch immer ineinander verflochten vor.
»Seht ihr, Nonna?« sagte Schwester Elissa hämisch.
»Liufs Guth!« kreischte Domina Aetherea. »Kalkinassus!«
Ich wußte inzwischen, daß dieses Wort Unzucht bedeutete, eine Todsünde. Hastig schlüpfte ich in meine Kutte und kauerte verängstigt am Boden. Deidamia dagegen kleidete sich ruhig an.
»Kalkinassus war es nicht, Nonna Aetherea. Vielleicht war es unrecht, die heilige Kommunion während der Arbeitszeit zu feiern, aber...«
»Die heilige Kommunion?! «
»... aber eine Sünde haben wir nicht begangen. Wenn eine Frau mit einer anderen Frau zusammenliegt, gefährdet das ihre Keuschheit nicht. Ich bin so jungfräulich, wie ich immer war, und dasselbe gilt für Schwester Thorn.«
»Slaváith!« donnerte Domina Aetherea. »Wie kannst du es wagen, so zu sprechen? Er und Jungfrau?«
»Er?« wiederholte Deidamia verwirrt.
»Ich sehe den Betrüger zum erstenmal von vorne«, sagte die Äbtissin eisig. »Aber du scheinst mit diesem Anblick wohlvertraut, meine Tochter. Willst du bestreiten, daß das einem Mann gehört?« Sie hob einen Zweig vom Boden auf
und hob damit, ohne mich zu berühren, den Saum meiner
Kutte. Alle drei Frauen betrachteten meine Schamteile, und auf ihren Gesichtern spiegelten sich unterschiedliche
Gefühle. Nur Gott weiß, was für einen Ausdruck mein
Gesicht hatte.
»Ganz klar ein Mann«, sagte Schwester Elissa mit einem dümmlichen Grinsen.
»Aber«, stotterte Schwester Deidamia, »aber Thorn hat
keine äh... äh...«
»Er hat genug, um zweifelsfrei ein Mann zu sein!« sagte die Äbtissin barsch. »Und um aus dir dummem Huhn eine
dreckige Hure zu machen.«
»O weh, Nonna Aetherea, es ist noch schlimmer als das!«
heulte die arme Deidamia in aufrichtiger
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