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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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letztem Besuch mit einem Dreirad auf der Auffahrt herumgefahren, jetzt trug sie hautenge Jeans und ein glitzerndes Diadem, offenbar ein modisches Accessoire, keine Verkleidung. Bennie spürte, wie alarmiert Chris plötzlich wirkte, als Olivia den Raum betrat, als hätte sich in seinem Inneren eine beschworene Schlange aus ihrem Korb erhoben.
    Sie gingen im Gänsemarsch eine enge Treppe ins Aufnahmestudio hinunter, das sich die Schwestern im Keller eingerichtet hatten. Ihr Vater hatte es vor Jahren für sie gebaut. Es war winzig, orangefarbenes Puschelfell bedeckte Boden, Decke und Wände. Bennie nahm sich den einzigen Stuhl und bemerkte beifällig eine Kuhglocke, die auf dem Keyboard lag.
    »Kaffee?«, fragte ihn Sasha. Chandra begleitete sie nach oben in die Küche. Louisa saß am Keyboard und klimperte ein paar Melodien. Olivia griff nach zwei Bongotrommeln und begann, ihre Mutter mit lockeren Rhythmen zu begleiten. Sie reichte Chris ein Tamburin, und zu Bennies Erstaunen fing sein Sohn an, es in perfektem Takt zu schlagen. Schön, dachte er. Geht doch. Dieser Tag hatte sich völlig unerwartet zum Guten gewendet. Die jugendliche Tochter würde kein Problem darstellen, beschloss er, ganz im Gegenteil, sie könnte als jüngere Schwester oder Cousine in die Band eintreten und deren Teeniecharakter verstärken. Vielleicht könnte auch Chris mitmachen, aber dann würden er und Olivia die Instrumente tauschen müssen. Ein Junge am Tamburin …
    Sasha brachte ihm den Kaffee, und Bennie zog seine rote Emailledose hervor und ließ eine Prise Flocken in die Tasse fallen. Als er daran nippte, breitete sich Zufriedenheit in ihm aus, wie Schnee in einem Schneesturm. Mann, fühlte er sich wohl. Er hatte einfach zu viel delegiert. Dabei ging’s drum, wie die Musik gemacht wurde: von Leuten mit Instrumenten und schrammeligem Equipment, die plötzlich einen zusammenhängenden Sound erzeugten, der gleichzeitig locker und lebendig war. Die Schwestern standen am Keyboard und stimmten ihre Musik ab, und auf einmal durchfuhr Bennie eine Ahnung, dass hier gleich etwas passieren würde. Er wusste es, weil seine Arme und sein ganzer Oberkörper kribbelten.
    »Ihr habt Pro Tools da drauf, ja?«, fragte er und zeigte auf den Laptop auf dem Tisch zwischen den Instrumenten. »Sind alle Mikros angeschlossen? Können wir gleich ein paar Tracks einspielen?«
    Die Schwestern nickten und warfen kurz einen prüfenden Blick auf den Laptop; sie waren bereit zur Aufnahme. »Mit Gesang?«, fragte Chandra.
    »Aber sicher doch«, sagte Bennie. »Wir machen alles auf einmal. Wir pusten der Bude jetzt das Dach weg.«
    Sasha stand rechts von Bennie. Von den vielen Körpern hatte sich der kleine Raum aufgeheizt, daher wehte ihn das Parfüm – oder war es eine Creme – an, das sie seit Jahren benutzte. Es roch nach Aprikosen: nicht nur dem süßen Fleisch, sondern auch etwas herb, wie nach der Kernhülle. Kaum atmete Bennie Sashas Duft ein, hob sich plötzlich sein Schwanz wie ein alter Köter, dem man einen jähen Tritt versetzt hat. Er wäre vor Schreck und Überraschung fast aufgesprungen, konnte sich aber gerade noch zusammenreißen. Nichts überstürzen, alles an sich herankommen lassen. Sonst würde er es noch vergraulen.
    Da fingen die Schwestern an zu singen. Wie der raue, beinahe brüchige Klang ihrer Stimmen sich in dem kleinen Raum mit dem Lärm der Instrumente mischte – das traf Bennie an einer Stelle, die tiefer saß als sein Urteilsvermögen oder sogar sein Lustempfinden; sie kommunizierten direkt mit seinem Körper, von dessen bebender, praller Reaktion ihm schwindlig wurde. Da hatte er seine erste Erektion seit Monaten – und wer sie hervorgerufen hatte, war Sasha, der Bennie in all den Jahren zu nahe gewesen war, als dass er sie wirklich hatte sehen können. Wie in diesen Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, die er heimlich las, weil sie angeblich nur was für Mädchen waren. Er schnappte sich die Kuhglocke und den Schlegel und drosch wie ein Wilder darauf ein. Musik durchströmte ihn bis in den Mund, die Ohren, die Rippen – oder war das sein eigener Puls? Er brannte lichterloh!
    Und auf dem Höhepunkt dieses lustvollen, überwältigenden Jubels erinnerte er sich an eine E-Mail zwischen zwei Kollegen, die versehentlich in Kopie an ihn gegangen war und in der er als »fieser Filz« bezeichnet wurde. Mein Gott, beim Lesen dieses Wortes war Bennie von heißer Scham überflutet worden. Er war nicht sicher gewesen, was das heißen

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