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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Kristall gespalten wird, und sie reagieren außerdem, selbst wenn sie kilometerweit voneinander entfernt sind, identisch auf Impulse, die nur einem von beiden gegeben werden.
Wie kann, fragt der verdutzte Physiker, ein Teilchen jedoch »wissen«, was dem anderen widerfährt? Zwar erkennen die Leute, die an Tischen in der Nähe von Kitty Jackson sitzen, sie unvermeidlich, aber wie können Leute jenseits des Blickfelds von Kitty Jackson, die unmöglich die Erfahrung gemacht haben können, Kitty Jackson zu sehen, sie im selben Augenblick erkennen?
Theoretische Erklärungen lauten:
1. Die Teilchen kommunzieren miteinander.
Unmöglich, denn das müssten sie dann schneller als mit Lichtgeschwindigkeit tun und damit gegen die Relativitätstheorie verstoßen. Mit anderen Worten, damit die Erkenntnis von Kittys Anwesenheit im selben Moment das ganze Restaurant erfüllt, müssten die Gäste an den nächststehenden Tischen die Tatsache ihrer Anwesenheit den weiter entfernt sitzenden Gästen, die sie nicht sehen können, durch Worte oder Gesten übermitteln – und das alles schneller als mit Lichtgeschwindigkeit. Und das ist unmöglich.
2. Die beiden Photonen reagieren auf Umgebungsfaktoren, die aus ihrem früheren Status als einzelnes Photon herrühren. Das war Einsteins Erklärung für das Phänomen der verschränkten Teilchen, das er als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnete.
Nichts da. Wir haben ja schließlich schon festgestellt, dass sie nicht aufeinander reagieren, sondern alle reagieren im selben Moment auf Kitty Jackson, die nur ein winziger Teil von ihnen wirklich sehen kann.
3. Es ist offensichtlich eins dieser Rätsel der Quantenmechanik.
Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass wir anderen in Kitty Jacksons Gegenwart durch unsere pure Erkenntnis, dass wir selbst nicht Kitty Jackson sind, miteinander verschränkt sind, eine Erkenntnis, die uns so unmittelbar vereint, dass sie für einen Moment alle Unterschiede zwischen uns auswischt – ob wir manchmal bei Paraden ohne erklärlichen Grund weinen müssen oder ob wir niemals Französisch gelernt haben oder ob wir uns vor Insekten fürchten und uns alle Mühe geben, das vor Frauen zu verheimlichen, oder ob wir als Kind gern Bastelpapier gegessen haben – in Kitty Jacksons Gegenwart besitzen wir diese Eigenschaften nicht mehr, wir sind vielmehr von allen anderen Nicht-Kitty-Jacksons in unserer Nachbarschaft so unmöglich zu unterscheiden, dass, wenn nur einer von uns sie sieht, der Rest im selben Moment reagiert.
    3 Manchmal gönnt dir das Leben die Zeit, die Muße, das dolce far niente , um alle die Fragen zu stellen, die im Sauseschritt des täglichen Leben meistens nicht auf den Prüfstand kommen: Wie gut kannst du dich an den Ablauf der Photosynthese erinnern? Hast du es je geschafft, mitten in einer Konversation das Wort »Ontologie« zu verwenden? In welchem Moment genau bist du in dem relativ normalen Leben, das du bisher geführt hast, vom Kurs abgekommen, bist haarscharf nach rechts oder links abgedriftet und damit auf den Weg geraten, der dich am Ende in dein derzeitiges Domizil geführt hat – in meinem Fall, Rikers Island?
Nachdem ich einige Monate lang jede Faser und jede Nanosekunde meines Essens mit Kitty Jackson einem Grad der Analyse unterzogen hatte, neben dem Talmudgelehrte bei der Beurteilung des Sabbat übereilt wirken würden, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass meine eigene haarfeine und doch entscheidende Neuausrichtung genau in dem Moment passiert ist, als Kitty Jackson ihren Finger in die Schüssel mit dem separaten Salatdressing tunkte und ihn ableckte.
Im Folgenden finden Sie sorgfältig auseinanderdividiert und in eine chronologische Folge zurückversetzt eine Rekonstruktion des Strudels von Gedanken und Impulsen, der, wie ich jetzt glaube, im entscheidenden Moment durch mein Gehirn gewirbelt ist:
1. Gedanke (beim Anblick von Kitty, die ihren Finger eintunkt und ableckt): Kann es denn möglich sein, dass dieses umwerfende junge Mädchen auf mich abfährt?
2. Gedanke: Nein, das ist absolut unmöglich.
3. Gedanke: Aber warum ist es unmöglich?
4. Gedanke: Weil sie ein berühmter neunzehn Jahre alter Filmstar ist, und du bist »auf einmal dicker geworden – oder fällt es mir einfach nur stärker auf?« (wie Janet Green bei unserer letzten, fehlgeschlagenen sexuellen Begegnung meinte) und hast ein Hautproblem und machst im Leben einfach nichts her.
5. Gedanke: Aber sie hat soeben ihren Finger in eine Schüssel mit

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