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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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egal. Hauptsache, die Amerikaner wissen, wer sie ist.«
    »Der General hat einen sehr eigenen Geschmack«, sagte Arc. »Er macht keine Zugeständnisse.«
    »Er braucht sie nicht anzufassen, Arc. Er braucht nicht mit ihr zu sprechen. Er muss nur neben ihr stehen und sich fotografieren lassen. Und dabei lächeln.«
    »… Lächeln?«
    »Er muss glücklich aussehen.«
    »Der General lächelt nur selten, Miss Peale.«
    »Er hat die Mütze aufgesetzt, oder nicht?«
    Daraufhin herrschte ein langes Schweigen, bis Arc schließlich sagte: »Sie müssen diese Schauspielerin begleiten. Dann werden wir sehen.«
    »Wohin begleiten?«
    »Hierher. Zu uns.«
    »Ach, Arc.«
    »Das muss sein«, sagte er.
    Als sie Lulus Schlafzimmer betrat, kam Dolly sich vor wie Dorothy beim Aufwachen in Oz: Alles war in Farbe. Ein rosa Schirm umgab die Deckenlampe, rosa Stoffschleier hingen von der Decke, Prinzessinnen mit rosa Flügeln waren mit Schablonen auf die Wände gemalt worden: Dolly hatte in einem Kunstkurs im Gefängnis gelernt, solche Schablonen herzustellen, und hatte, während Lulu in der Schule war, Tage mit der Dekoration des Zimmers verbracht. Lange rosa Perlenschnüre hingen von der Decke. Wenn sie zu Hause war, verließ Lulu ihr Zimmer nur zum Essen.
    Sie gehörte zu einem Netzwerk von Miss Rutgers Eliteschülerinnen, einem so feinen und so beängstigend verlässlichen Geflecht, dass selbst das Flammeninferno ihrer Mutter und die Gefängnishaft (während derer Lulus Großmutter aus Minnesota gekommen war, um sich um sie zu kümmern) es nicht hatten zerstören können. Es war kein Faden, der diese Mädchen zusammenhielt, es war ein Drahtseil. Und Lulu war der Pfeiler, um den sich dieses Drahtseil schlang. Wenn Dolly hörte, wie ihre Tochter mit ihren Freundinnen telefonierte, war sie von ihrer Autorität beeindruckt: Lulu konnte streng sein, wenn es nötig war, aber auch milde oder gütig. Lulu war erst neun.
    Sie saß auf einem rosa Sitzsack, machte auf ihrem Laptop Hausaufgaben und tauschte mit ihren Freundinnen Nachrichten aus (seit dem General konnte sich Dolly W-LAN leisten). »Hallo, Dolly«, sagte Lulu, die Dolly seit deren Entlassung aus dem Gefängnis nicht mehr Mom nannte. Sie kniff die Augen zusammen, als habe sie Probleme damit, ihre Mutter zu erkennen. Und Dolly kam sich tatsächlich vor wie ein schwarz-weißer Eindringling in diesem farbenfrohen Schloss, ein Flüchtling aus der Armseligkeit, die das Schloss umgab.
    »Ich muss verreisen«, sagte sie zu Lulu. »Einen Klienten besuchen. Vielleicht bleibst du am besten solange bei einer Freundin, damit du die Schule nicht versäumst.«
    Die Schule war der Ort, um den sich Lulus Leben drehte. Sie sorgte eisern dafür, dass ihre Mutter, die einst ein festes Element bei Miss Rutgers gewesen war, Lulus Status nicht durch ihre neue Schande in Gefahr brachte. Seither setzte Dolly Lulu hinter der nächsten Ecke ab und sah ihr entlang einer feuchten Upper East Side-Fassade nach, um sicher zu gehen, dass Lulu die Schultür unversehrt erreichte. Nach der Schule wartete Dolly an derselben Stelle, während Lulu noch mit ihren Freundinnen herumtrödelte, manikürten Büschen und (im Frühling) Tulpenbeeten auswich und alle zu ihrem Machterhalt erforderlichen Transaktionen zu Ende brachte. Wenn Lulu eine Freundin besuchte, durfte Dolly sie nur in der Eingangshalle abholen. Lulu kam dann abends mit roten Wangen, nach Parfüm oder frischen Brownies duftend aus dem Fahrstuhl, nahm die Hand ihrer Mutter und ging mit ihr am Portier vorbei hinaus. Nicht als Entschuldigung – Lulu hatte nichts, wofür sie um Entschuldigung hätte bitten müssen –, sondern aus Mitgefühl, weil sie beide es so schwer hatten.
    Lulu legte neugierig den Kopf schräg. »Ein Klientenbesuch. Das ist doch gut, oder?«
    »Ja, das ist wirklich gut«, sagte Dolly leicht nervös. Sie hatte den General vor Lulu geheim gehalten.
    »Wie lange bleibst du weg?«
    »Ein paar Tage. Vier vielleicht.«
    Es herrschte ein langes Schweigen, bis Lulu schließlich fragte: »Kann ich mitkommen?«
    »Mit mir?« Dolly war verblüfft. »Aber dann würdest du die Schule versäumen.« Wieder Schweigen. Lulu stellte im Kopf eine Rechnung auf, bei der sie vielleicht die Wirkung auf ihresgleichen, wenn sie die Schule versäumte, dagegen aufwog, dass sie irgendwo zu Gast wäre, oder die Frage, ob ein längerer Aufenthalt bei einer Freundin möglich wäre, ohne dass die Eltern dieser Freundin Kontakt zu ihrer Mutter haben müssten. Dolly wusste

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