Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Eins
IN DEN ERSTEN acht Jahren von Walkers Leben ist jede Nacht gleich. Bis ins kleinste Detail der gleiche Ablauf, immer in der gleichen Reihenfolge, jede Einzelheit ist alltäglich, und doch ist jede alles entscheidend.
Dieser immer gleiche Ablauf führt dazu, dass die acht Jahre einem lang vorkommen, beinahe endlos, bis ich später versuche, über sie nachzudenken, und dann lösen sich die acht Jahre in nichts auf, denn nichts hat sich verändert.
Heute Nacht wache ich im Dunkeln auf und höre ein gleichmäßiges, mechanisches Geräusch. Etwas stimmt nicht mit dem Wasserkocher. Nnngah. Pause. Nnngah. Nnngah.
Aber es ist nicht der Wasserkocher. Es ist mein Junge, Walker, der grunzt, während er sich wieder und wieder gegen den Kopf schlägt.
Er tut dies, seitdem er knapp zwei Jahre alt ist. Er ist mit einer unfassbar seltenen Mutation auf die Welt gekommen, dem Cardio-Facialen-Cutanen-Syndrom, einem technischen Begriff für eine Kombination von Symptomen. Er ist ganz allgemein behindert und kann nicht sprechen, deshalb weiß ich auch nie, was ihn quält. Niemand weiß das. Es gibt auf der ganzen Welt nur etwas mehr als hundert Menschen mit CFC . Die Anomalie tritt zufällig auf, ein Fehler, der keine spezifischen Gründe oder Ursachen hat; Ärzte nennen das ein seltenes Syndrom, im angelsächsischen Sprachraum sagt man »orphan syndrome«, aufgrund seiner Seltenheit und weil es aus dem Nichts zu kommen scheint.
Ich zähle die Grunzlaute, während ich in sein Zimmer tapse: jede Sekunde einen. Um ihn dazu zu bringen, dass er sich nicht mehr selber schlägt, muss ich ihn wieder zum Schlafen bringen, was bedeutet, dass ich ihn mit nach unten tragen, ihm ein Fläschchen bereiten und ihn mit zu mir ins Bett nehmen muss.
Das hört sich doch leicht an, oder? Aber mit Walker ist alles kompliziert. Wegen seines Syndroms kann er keine feste Nahrung zu sich nehmen, ja nicht einmal ohne Schwierigkeiten schlucken. Weil er nicht essen kann, nimmt er seine Milchnahrung während der Nacht durch einen Ernährungsapparat auf. Die Milchnahrung fließt von einem Nahrungsbeutel, durch eine Pumpe an einem Metallständer angetrieben, über einen Schlauch durch ein Loch in Walkers Schlafanzug in einen raffiniert aussehenden permanenten Zugang in seinem Bauch, der manchmal PEG -Sonde oder einfach »Mickey« genannt wird. Um ihn aus dem Bett zu heben und nach unten in die Küche zu tragen, wo ich das Fläschchen zubereite, das ihn wieder in den Schlaf zurück versetzen wird, muss ich den Schlauch von der Sonde abtrennen. Damit ich das tun kann, muss ich erst einmal die Pumpe abstellen (im Dunkeln, damit er nicht gänzlich hellwach wird) und den Schlauch abklemmen. Wenn ich den Schlauch nicht abklemme, tropft die klebrige Milchnahrung auf das Bett oder den Fußboden (der Teppichboden in Walkers Zimmer ist blassblau: Es gibt darauf Flecken, die sich von all den Malen, an denen ich es vergessen habe, wie die Wüste Gobi anfühlen). Um den Schlauch zusammenzudrücken, schiebe ich einen winzigen roten Plastikhebel herunter. (Das ist mir der liebste Teil dieses routinierten Ablaufs – immerhin eine Sache, die leicht und völlig unter meiner Kontrolle ist.) Ich mache den Reißverschluss seines einteiligen Schlafanzuges auf (Walker ist klein und wächst so langsam, dass er eineinhalb Jahre lang den gleichen Schlafanzug tragen kann), greife hinein, um den Schlauch vom »Mickey« abzumachen, ziehe ihn durch das Loch in seinem Schlafanzug und hänge ihn an den Ständer, an dem auch die Pumpe und der Nahrungsbeutel hängen. Schließe den »Mickey«, mache den Schlafanzug wieder zu. Dann beuge ich mich herunter und hebe Walker mit seinen vollen dreiundzwanzig Kilo aus den Tiefen seines Kinderbettes. Er schläft immer noch in einem Kinderbett. Nur so können wir sicher sein, dass er nachts im Bett bleibt. Er kann allein eine Menge Schaden anrichten.
Dies ist keine Beschwerdeliste. Es hat keinen Sinn, sich zu beklagen. Wie die Mutter eines anderen CFC -Kindes einmal zu mir sagte: »Man tut, was man zu tun hat.« Das ist, wenn überhaupt, noch der leichteste Teil. Schwierig wird es, wenn man versucht, die Fragen zu beantworten, die Walker jedes Mal in mir auslöst, wenn ich ihn hochhebe. Worin besteht der Wert eines solchen Lebens – eines Lebens im Zwielicht und oftmals in Schmerzen? Was für Lasten bürdet sein Leben denjenigen um ihn herum auf? »Wir geben eine Million Dollar aus, um ihr Leben zu retten«, sagte erst vor Kurzem eine Ärztin zu
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