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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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war das jetzt zwanzig Jahre her? Oder länger? Er hörte Wellen aus purem, glockenreinen, gespenstisch-süßen Klang, die zum heller werdenden Himmel emporschwebten: in Klausur lebende Nonnen, die außer einander keinen Menschen sahen, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten und jetzt in der Messe sangen. Nasses Gras unter seinen Knien, das leuchtende Grün pochte gegen seine erschöpften Augäpfel. Noch heute klang Bennie die überirdische Süße dieser Nonnenstimmen in den Ohren.
    Er hatte damals einen Termin mit der Mutter Oberin gemacht – der einzigen Ordensfrau, die mit Außenstehenden sprechen durfte –, hatte zur Tarnung zwei Mädchen aus dem Büro mitgebracht und in einer Art Vorraum gewartet, bis die Mutter Oberin hinter einer viereckigen Öffnung in der Wand, die aussah wie ein Fenster ohne Glas, aufgetaucht war. Sie war ganz in Weiß, die Haube lag eng um ihr Gesicht. Bennie erinnerte sich daran, dass sie viel gelacht hatte, rosige Wangen hatten sich zu Girlanden gehoben, entweder aus Freude über den Gedanken, Gott in Millionen Wohnzimmer zu bringen, oder angesichts der ganz neuen Erfahrung, dass ein Plattenfuzzi in lila Cord ihr ein Angebot machte. Ruck, zuck war das Geschäft beschlossen.
    Er näherte sich der viereckigen Öffnung, um sich zu verabschieden (an dieser Stelle wand sich Bennie in der Vorahnung des Augenblicks, auf den das alles hinauslief, in seinem Konferenzsessel). Die Mutter Oberin beugte sich ein wenig vor und neigte dabei ihren Kopf auf eine Weise, die etwas in Bennie ausgelöst haben musste, denn er lehnte sich blitzschnell über die Fensterbank und küsste sie auf den Mund: flaumige Samthaut, ein intimer Hauch von Babypuder in dem Sekundenbruchteil, ehe die Nonne aufschrie und zurückfuhr. Er wich zurück und grinste trotz seines Entsetzens, als er ihr empörtes, verletztes Gesicht sah.
    »Bennie?« Collette stand vor der Anlage und hielt die Stop/Go- CD hoch. Alle schienen zu warten. »Möchtest du das hören?«
    Aber Bennie war in einer zwanzig Jahre zurückliegenden Zeitschleife gefangen: Wie eine Aufziehfigur in einem Glockenspiel beugte er sich durch den Wandausschnitt zur Mutter Oberin vor, wieder und wieder.
    »Nein«, stöhnte er. Er drehte sein schwitzendes Gesicht in den Wind, der vom Fluss her durch die Fenster des alten Kaffeekontors in Tribeca fegte, wo Sow’s Ear Records seit sechs Jahren zwei Stockwerke belegte. Es war nie zu der Aufnahme mit den Nonnen gekommen. Bei seiner Rückkehr aus dem Kloster hatte ihn die Absage schon erwartet.
    »Nein, danke«, sagte er zu Collette. »Ich möchte den Mix nicht hören.« Es schüttelte ihn, er fühlte sich besudelt. Bennie ließ ständig irgendwelche Künstler fallen, manchmal drei pro Woche, aber jetzt übertrug sich sein eigenes Versagen auf das der Stop/Go-Schwestern, als sei er daran schuld. Im Widerspruch dazu regte sich in ihm der unbezwingliche Wunsch, das wieder zu erleben, was er an diesen Schwestern damals so aufregend fand – er wollte diese Aufregung noch einmal verspüren. »Ich könnte sie doch besuchen?«, entfuhr es ihm.
    Collette sah erst verwirrt aus, dann misstrauisch, dann besorgt, eine Abfolge, die Bennie belustigt hätte, wenn er nicht so durch den Wind gewesen wäre. »Wirklich?«, fragte sie.
    »Sicher. Ich mach das gleich heute, sobald ich meinen Kleinen abgeholt habe.«
    Bennies Assistentin Sasha brachte ihm Kaffee: mit Milch und zwei Stück Zucker. Er fischte ein rotes Emailledöschen aus der Tasche, öffnete den widerspenstigen Verschluss, nahm mit zitternden Fingern eine Prise Goldflocken und ließ sie in die Tasse fallen. Mit dieser Diät hatte er zwei Monate zuvor begonnen, nachdem er in einem Buch über aztekische Medizin gelesen hatte, dass Gold und Kaffee zusammen sexuelle Potenz garantierten. Bennie ging es um Grundlegenderes als Potenz: um den sexuellen Drang als solchen , da sein eigener auf mysteriöse Weise verflogen war. Er wusste nicht so ganz, wann das passiert war und woran es lag: An der Scheidung von Stephanie? Dem Gerangel um Christopher? Daran, dass er kürzlich vierundvierzig geworden war? An den empfindlichen runden Brandstellen auf seinem linken Unterarm, die er auf »der Party« abbekommen hatte, einem nicht lange zurückliegenden Debakel, das niemand anderes organisiert hatte als Stephanies ehemalige Chefin, die jetzt im Gefängnis saß?
    Das Gold landete auf der milchigen Oberfläche des Kaffees und wirbelte umher. Bennie war fasziniert von diesem Gewirbel, das ihm wie

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