Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
Vom Netzwerk:
Experte?«
    »Meine Frau ist gejoggt«, sage ich.
    »Ist gejoggt? Heißt das, sie hat damit aufgehört?«
    »Sie hat aufgehört, meine Frau zu sein. Vermutlich joggt sie noch immer.«
    Es war ein ruhiger Morgen. Ich hörte das langsame Ploppen von Tennisbällen auf den Plätzen hinter der Williamsburg-Brücke. Abgesehen von Joggern und Tennisspielern waren frühmorgens normalerweise nur ein paar Junkies unten am Fluss. Ich hielt immer Ausschau nach einem bestimmten Paar, einem Mann und einer Frau in hüftlangen Lederjacken mit mageren Beinen und eingefallenen Gesichtern. Das mussten Musiker sein. Ich war zwar schon lange nicht mehr im Geschäft, aber einen Musiker hätte ich überall erkannt.
    Die Sonne ging auf, groß und leuchtend und rund, wie ein Engel, der den Kopf hebt. Es war dort noch nie so schön gewesen. Silber floss über das Wasser. Ich wäre gern hineingesprungen, um zu schwimmen. Verschmutzung?, dachte ich. Davon gerne mehr. Und dann sah ich das Mädchen. Ich sah es nur aus dem Augenwinkel, aber es fiel mir auf, denn es war klein und lief mit hohen, schwungvollen Schritten, die es von den anderen abhoben. Seine hellbraunen Haare leuchteten auf, wenn das Sonnenlicht sie berührte, sie verbreiteten ein geradezu überirdisches Licht. Rumpelstilzchen, dachte ich. Dave glotzte das Mädchen an, und sogar Sammy drehte sich um, um ihm nachzuschauen, ich aber richtete meine Augen weiter auf den Fluss und sah meine Angelschnur an, ob etwas anbiss. Ich sah das Mädchen, ohne hinsehen zu müssen.
    »Hey, Scotty«, sagte Dave. »Ich glaube, deine Frau ist gerade vorbeigelaufen.«
    »Ich bin geschieden«, sagte ich.
    »Das war sie jedenfalls.«
    »Nein«, sagte ich. »Sie lebt in San Francisco.«
    »Vielleicht war das deine nächste Frau«, schlug Sammy vor.
    »Das war meine nächste Frau«, sagte Dave. »Und wisst ihr, was ich ihr als Erstes beibringen werde? Binde sie nicht fest. Lass sie wippen.«
    Ich sah meine Angelschnur an, die in der Sonne hin und her schwang. Mein Glück war verflogen; ich wusste, dass ich nichts fangen würde. Bald musste ich zur Arbeit. Ich holte meine Schnur ein und ging am Fluss entlang Richtung Norden. Die junge Frau war schon ein ganzes Stück vor mir, ihre Haare bewegten sich bei jedem Schritt. Ich folgte ihr, aber in so großer Entfernung, dass von Folgen nicht die Rede sein konnte. Ich ging nur in dieselbe Richtung. Meine Augen fixierten sie so, dass ich nicht einmal das Junkie-Pärchen bemerkte, bis es fast an mir vorüber war. Sie gingen eng aneinandergeschmiegt und sahen abgemagert und sexy aus, wie junge Leute das eine Zeitlang tun können, bis sie dann nur noch abgezehrt aussehen. »Hey«, sagte ich und trat ihnen in den Weg.
    Wir hatten uns sicher schon an die zwanzig Mal an diesem Fluss gesehen, aber der Typ drehte seine Sonnenbrille in meine Richtung, als hätte er mich noch nie gesehen, und das Mädchen sah mich überhaupt nicht an. »Seid ihr Musiker?«, fragte ich.
    Der Typ wandte sich ab, um mich abzuschütteln. Aber das Mädchen blickte auf. Seine Augen waren wund, als würden sie sich schälen, und ich fragte mich, ob die Sonne ihnen nicht wehtat und warum ihr Freund, Mann oder was er war, ihr nicht seine Sonnenbrille gab. »Er ist gigantisch«, sagte sie, sie benutzte dieses Wort wie ein jugendlicher Skateboarder. Oder auch nicht, dachte ich. Vielleicht war es wirklich so gemeint.
    »Das glaube ich gern«, sagte ich. »Ich glaube, er ist ein gigantischer Musiker.«
    Ich griff in meine Hemdtasche und zog Bennies Karte heraus. Ich hatte ein Stück Kleenex benutzt, um sie aus dem Jackett, das ich gestern anhatte, zu entfernen und in das Hemd von heute zu stecken, um sicherzugehen, dass sie nicht geknickt, gefaltet oder befleckt wurde. Die geprägten Buchstaben erinnerten mich an eine römische Münze. »Ruft diesen Mann an«, sagte ich. »Er leitet eine Plattenfirma. Sagt ihm, Scotty schickt euch.«
    Beide sahen die Karte an und kniffen gegen die schrägstehende Sonne die Augen zusammen.
    »Ruft ihn an«, sagte ich. »Er ist ein Kumpel von mir.«
    »Klar«, sagte der Typ skeptisch.
    »Tut das bitte wirklich«, sagte ich, kam mir aber hilflos vor. Ich konnte das nur einmal machen, ich würde nie wieder so eine Karte haben.
    Während der Typ die Karte betrachtete, sah das Mädchen mich an. »Er wird anrufen«, sagte es und lächelte. Kleine, regelmäßige Zähne, wie man sie durch Zahnspangen bekommt. »Ich sorg dafür.«
    Ich nickte, drehte mich um und ließ die Junkies

Weitere Kostenlose Bücher