Mord in Oxford
1. KAPITEL
D
ie Frau zögerte einen Augenblick vor dem Haus Redbourne Road 29, ehe sie klingelte und sofort wieder einen Schritt zurückwich.
»Was gibt’s?«, raunzte er, schon bevor er die Tür öffnete.
»Ich muss dringend mit dir reden. Es geht um meine Emaille-Dosen.« Ihre Stimme war hell und atemlos, fast wie die eines Kindes.
» Unsere Dosen. Wie oft habe ich dir das nun schon gesagt? Deine Großmutter hat sie uns beiden zur Hochzeit geschenkt. Also sind es unsere Dosen. Und wenn ich die Hälfte von ihnen behalten will, dann darf ich das. Ganz und gar rechtmäßig. Und jetzt verschwinde.«
Der Februarwind wirbelte tote Blätter und Plastiktüten durch die schmale Oxforder Vorortstraße. Eine Plastiktüte hatte sich unbemerkt am Absatz der Frau verfangen und raschelte und knatterte über den gepflasterten Gartenweg.
»Bitte, Theo. Ich muss sie zurückhaben. Und zwar alle. Es ist wirklich wichtig. Kann ich nicht kurz reinkommen? Wir sollten vielleicht in Ruhe darüber reden.«
Irritiert starrte Theo auf die Plastiktüte an ihrem Schuh. Er trug Gummihandschuhe. Wahrscheinlich hatte sie ihn beim Abwasch überrascht. Seine große, blaue Hand ruhte auf der Eingangstür, bereit, sie jeden Augenblick zuzuschlagen; in der anderen Hand hielt er ein weißleinenes Geschirrtuch.
»Wir können auch hier reden, wenn du mir was zu sagen hast«, antwortete er, ohne den schneidenden Wind wahrzunehmen, der Regentropfen gegen die Fensterscheiben peitschte und das Haar der Frau zauste, wo es unter ihrer Strickmütze hervorschaute.
»Du musst mir helfen. Oma kommt nach Oxford. Sie will mich besuchen und mit mir über die Dosen sprechen.« Sie blickte zu ihm auf und hielt einen Augenblick inne, als ob sie darauf warte, doch noch ins Haus gebeten zu werden. Schließlich fuhr sie enttäuscht fort: »Sie hat irgendetwas von einer Verkaufsausstellung geschrieben. Ihre Handschrift ist miserabel, deshalb habe ich nicht alles entziffern können. Auf jeden Fall will sie die Sammlung sehen, Theo, und zwar vor allem die Oxford-Dose; das war ziemlich klar.«
»Vermutlich hat sie von der Ausstellung gelesen. Tod als Kunstform . Hast du nicht davon gehört?« Die Frau schüttelte den Kopf, »Die Veranstaltung hat ein reges Interesse an Trauergegenständen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert hervorgerufen. Letzten Monat wurden sogar einige dieser Döschen bei Christie’s versteigert. Bis dahin war mir gar nicht klar, wie gesucht vor allem die von John Parrish sind. Die Dose auf der Auktion hat jedenfalls einen unglaublichen Preis erzielt. Unsere Oxford-Dose ist eine Masse Geld wert.« Zwischen den Falten des Leinentuchs in seiner rechten Hand glänzte kurz ein Schimmer dunkelblauer Emaille hervor.
»Verstehst du denn nicht? Sie sieht die Dosensammlung nicht als unser Eigentum an. Für sie ist es immer noch ihre. Sie wird fuchsteufelswild, wenn sie in die Rosamund Road kommt und die halbe Sammlung ist nicht mehr da.« Sie hatte die Dose nicht gesehen, die jetzt in der großen blauen Hand verschwand.
»Wie alt ist sie? Fünfundachtzig? Sechsundachtzig? Jedenfalls war sie in ihrer Jugend anscheinend schlau genug, in Wertgegenstände zu investieren« – seine roten Lippen formten einen spöttischen Kussmund, als er das Wort aussprach. »Damals waren sie nämlich noch erschwinglich. Andererseits bin ich ziemlich sicher, dass sie keine Ahnung vom geltenden Scheidungsrecht hat. Du wirst es ihr halt erklären müssen. Warst du nicht immer ihre Lieblingsenkelin? Lass dir einfach was einfallen, Rose.«
Er schickte sich an, die Tür zu schließen, aber Rose stemmte sich mit beiden Händen dagegen und hielt sie offen. Wohl oder übel musste er ihre Antwort über sich ergehen lassen.
»Ich bin ihr einziges Enkelkind. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht alles ihrer alten Schule vermachen kann, wenn sie will. Und das wird sie wollen, Theo, wenn sie herausbekommt, dass ich mir ihre halbe Dosensammlung von dir habe stehlen lassen.«
»Mach dich nicht lächerlich. Niemand hat hier irgendetwas gestohlen. Allerdings habe ich absolut nicht die Absicht, mich von schönen und wertvollen Dingen zu trennen, die mir von Rechts wegen zustehen.«
Der scharfe Wind trieb Rose Tränen in die Augen. Ihre Stimme wurde noch ein wenig schriller als zuvor. »Aber ich bin angewiesen auf das Geld, das sie mir hinterlassen wird. Vor allem jetzt …« Sie schniefte vernehmlich, ohne den Satz zu vollenden. »Ich hatte gehofft, sie würde mir
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