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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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erübrigt. »Ich liebe dich nicht.« Und wenn sie beim ersten Mal vielleicht noch zugehört hatte, so beim zweiten Mal entschieden nicht mehr. Es genügte, daß sie liebte und von Liebe sprach, und daß er sich das so gefallen ließ. »Du bist mein Geliebter. Seit meiner Kindheit bist du der erste Mensch, mit dem ich so bin, wie ich bin. Und niemand in der Gegend, niemand im Land hat mehr gemeinsame Liebesstunden verbracht als wir. Und jedesmal haben wir es der Welt gezeigt. Wir haben’s ihr gegeben. Haben uns an der Zeit jetzt, der übermächtigen, der scheint’s geltenden, gerächt. Haben über sie gesiegt, und sie hat nicht mehr gegolten, ist verduftet, und wir, wir zwei, wir beide, sind die geltende Welt geworden. Sind geworden und gewesen, was der Fall ist.«
    Und er ließ sich das, ließ sich sie und sich gefallen. Und trotzdem fehlte sie ihm, »die Liebe«. Ohne Anführungszeichen: Die Liebe fehlte ihm. Sie fehlteihm jeden Tag, einmal weniger schmerzhaft, einmal als Schmerz der Schmerzen, so oder so ein tagtäglicher Schmerz. Das Fehlen der Liebe, es empörte ihn, zwar unter anderm auch gegen sich selber, aber zuletzt doch weit über sich selber hinaus. Es war im übrigen, recht bedacht, nicht ein Fehlen, welches so empörend war, vielmehr ein Ausbleiben. Ein Fehlen wäre ja schon eine Weise der Liebe gewesen, eine möglicherweise umfassendere und zukunftsweisendere als eine vorhandene, greifbare, sozusagen habhafte, so wie man doch zu einem, einer Abwesenden sagte: »Du fehlst mir!«, und das war eine Art Liebe. Die Liebe, sie fehlte ihm nicht. Sie blieb scheußlich aus, und so auch an diesem, an jenem Morgen. »Und es ist doch ein Fehlen«, sagte er laut zu sich selber. »Ohne sie, ohne auch nur einen Augenblick gesegnet von ihr und mit ihr und durch sie, verdient mein Tag nicht, Tag zu heißen, bin ich nichts als ein üblicher Tagedieb. Den Freundestrug dagegen bin ich froh, für alle Tage los zu sein.«
    Regen und Lesen. Der Schauspieler war ein Leser. Obwohl das Buch auf dem Küchentisch von einer Art Amoklauf erzählte, las er es nicht etwa, um sich auf seine Rolle vorzubereiten. Er gehörte zu denen, die sich nie eigens für etwas vorbereiteten, und das galt über seinen Beruf hinaus. Konfrontiert mit einem Part, verstärkte er eher das Müßiggehen, suchte er Ablenkungen, ließ kommen, wie es kam, ließ geschehen. Insofern bereitete er sich so vielleicht doch vor.
    Zu Beginn der Geschichte war der, von dem sie handelte, beim Frühstück gesessen, so wie der Leser jetzt – was den nicht kümmerte: Er las, und da galt allein das Erzählte, und er war darin verschwunden. Man konnte sich den Helden des Buchs, wie er Tee trank und einen fernen Horizont im Auge hatte, als jemand Beschwingten vorstellen. Er würde an diesem Tag etwas Großes unternehmen, das entscheidende Bild malen, den langgesuchten Kindermörder fassen, der Frau seines Lebens begegnen, einen aus einem brennenden Haus ins Leere Springenden auffangen.
    Wie fast zu erwarten in solcherart Geschichten, schlug der Tag dann um, und zwar durch einen einzigen Zitronenkern, welcher dem Mann beim Auspressen der Scheibe zu Boden fiel. Als er sich nach dem Kern bückte, glitt der ihm, glatt und glitschig, wie er war, durch die Finger, und dann noch einmal, und noch einmal. Er hätte ruhig abwarten können, bis das Ding getrocknet wäre. Aber nein: Er mußte den Kern augenblicklich vom Boden aufheben, esmußte jetzt sein, es ging dabei um Alles. Nur gelang ihm das nicht und nicht, ein jedesmal sprang, spritzte, flitzte ihm das kaum erbsengroße, jedoch anders als eine Erbse glitschige und überdies stromlinienförmige Zitronenkernchen weg von den Fingerkuppen, zuletzt quer durch das ganze Zimmer und unter das Wandbett, und als er sich davor auf den Bauch legte, in der einen Hand einen Besen, in der anderen eine Stablampe, entdeckte er das weißliche Kernchen im hintersten Winkel unter dem Bett, das zu breit war, als daß er mit dem Besen hätte drankommen können, und außerdem unverrückbar, an der Wand mit Schrauben befestigt: da leuchtete und blinkte es ihm aus dem Finstern entgegen, »auch ein Horizont, nur ein anderer als der eben noch vor dem Fenster in weiter Ferne«.
    Das Kapitel schloß damit, daß der Held gleichwohl wieder zur Ruhe fand, am Tisch weiter seinen Tee trank und, neuerlich in Gedanken versunken, die Tasse zum Mund führte, worauf ein ohrenbetäubender Krach erscholl: die Untertasse war haftengeblieben an der Tasse, hatte sich

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