Der Große Fall (German Edition)
nachtwindwärts, wie nur ein Rabe. »Fall’ ich in den Graben, retten mich die Raben«: Auch das sang er, fast.
Ja, das war die Stadt der Guten Wege, nicht allein wegen der Trampelpfade, das letzte Wegstück gesäumt von einem Stein, groß wie ein Dolmen, ein Überbleibsel des Netzes der Königsmeilen, mit der tief da eingeritzten, fast verwitterten Krone, jener des Königs Wunderheiler, nach welchem auch der Platz bei der Kathedrale benannt war. Blick auf die Hand, die den Konturen nachfuhr: die Nägel übermäßig gewachsen an diesem Tag, und zu den Härchen auf den Fingern einige rötliche dazugekommen.
Der kleine Platz der Kathedrale ausgeleuchtet wie die ganze innere Stadt. Doch die vielen Vorsprünge und Einbuchtungen des Gotteshauses sorgten für Schattenbahnen, und daneben standen drei Bäume so dicht zusammen, daß sie zu dritt einen Wald, einen dunklen Wald mitten in der Weltstadt, bildeten. Anders als die übrigen zentralen Plätze war dieser hier ungepflastert, die Erde, auf welcher die Stadt gebaut war, eine Flugerde, lag rotgelb offen da, leicht gebuckelt, und dort, wo die Sonne den Morgenregen getrocknet hatte, mit dem Muster aus Fünf- und Sechsecken, wie auf der ganzen Welt ausgetrockneter Boden. Da erst einmal – das durfte man jetzt – innezuhalten, auch das beseelte. Zudem zeigte sich, nach der Schwärze zu Häupten, endlich der Himmel. Oder war der schon längst zu sehen gewesen, und erhatte bloß nicht den Kopf gehoben? Der Mond ließ die Nacht schimmern, und er war halb und stimmte bei der Ankunft meines Schauspielers auf dem Platz überein mit dem Turmkreuz, welches überragt wurde von einem vergoldeten Hahn. »Einen Sonnenaufgang noch erleben!« Warum dachte er das? Der Mond gespiegelt in den Regenlachen, und dazugespiegelt eine ihn kreuzende Fledermaus. Täuschte er sich, oder fiel, vor Mitternacht, schon Tau? Den Hut abgenommen und eine der Falkenfedern über den Platz segeln gelassen. Die Haare fühlten sich feucht an, und dann auch die nach oben gekehrten Handteller. Unten am Mond, wie die Gondel eines Ballons, ein einzelner Stern, die Venus, der Mars? Weiß nicht. Der Orion, oder wie der hieß, konnte es nicht sein, es war ja nicht Winter, ebenso nicht die Pleiaden, oder wie die hießen.
In dem Baum, einem Laubbaum, plusterte sich ein schlafender Vogel, wobei Laub und Vogel eins wurden. Vor der Bar der Bestimmung saßen noch viele. Er erkannte die Frau von weitem. Auch sie saß da als jemand, der eine Mission hatte, wenn auch, im Gegensatz zu ihm, eine auf den ersten Blick offenbare, und wie jedesmal schaute sie eigens nicht in seine Richtung. Sie hatte Durst. Nicht allein sie, auch die übrigen dort Sitzenden erschienen ihm als die Heiligen der Letzten Tage, andere als die geläufigen. Hunger und Durst, Durst und Hunger. Sein Herz schlug wie ein auskeilendes Wildpferd. »Na, einsamer Jäger.« Über dem Kirchentor, in Blockbuchstaben, das Thema, oder was immer, der Predigt vom Sonntag oder sonstwann: WAS SUCHT IHR DEN LEBENDEN UNTER DEN TOTEN ? Von weit her durch die Nacht der Schall einer Stimme, die in Abständen brüllte: »Halt’s Maul! Shut up! Ta gueule!« Oder war das ein Echo? Nein, das Echo, der Nachhall, war ja schon vor längerem abgeschafft, wie auch die Luftstöße nach der Durchfahrt der Züge, der Busse und Lastwagen. Wie verloren sie beide waren, wie – ausgerenkt, ausgerenkt an Leib und Seele, er hier und sie dort, verloren unter dem Himmel, ein jeder für sich wie auch für den andern. Sie umrennen mit aller Kraft. Sich von ihr umrennen lassen. Übereinander herfallen und einander bekämpfen, einander zerfleischen, bis aufs Blut, bis zum Gehtnichtmehr, auf Leben und Tod. Miteinander so ringen, bis sich der Himmel, oder sonst ein Dritter oder wer oder was, sich ihrer beider erbarmte und sie zeitlebens ineinander eingerenkt wären, jetzt und bis zur Stunde ihres Todes.
Auf dem Platz Stille, von den leisen Stimmen belebt. Die Häuser in dem Geviert bis auf die Kathedralegleich niedrig, ebenerdig, eher Hütten, obenauf freilich alle mit einem Mansardendach-en-miniature. In einem der Häuser oder Hütten klar hörbar das Geräusch von Schritten, langsamen, schweren: Eine Mutter stieg die Holztreppe hinauf in die Mansarde, in das verlassene Zimmer des verlorenen Sohns. Das Summen der Trostlosigkeit. »Gib, daß …« Gib was?
Er stand, und stand, und stand. Dritter Hunger, der große. Zeit für den zweiten Sanften Lauf.
Statt dessen der Große Fall.
Great Falls,
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