Der große Ölkrieg
Getreidelieferungen im Augenblick Kalkutta nicht mehr erreichen.“
„Aber vor gut einem Monat hat doch die amerikanische Regierung zusammen mit der EG genügend Getreide angeliefert, so daß eigentlich für die nächsten Wochen, bis zur anstehenden Ernte, ausreichend zur Verteilung vorhanden sein müßte.“ Kleinschmidt erinnerte sich, darüber in verschiedenen Zeitungen gelesen zu haben. „Das waren enorme Mengen.“
„Das stimmt, Sir.“ Mahat konnte das nur bestätigen. „Aber nach den Aufständen hier in der Stadt, in Bombay, Madras und Neu-Delhi, aber auch in verschiedenen Regionen des flachen Landes, war das auch dringend notwendig!“
„Wie ist denn die Versorgungslage Kalkuttas?“ fragte Gerad.
„Gemessen am Landesdurchschnitt ziemlich gut. Kalkutta ist in den letzten Jahren immer bevorzugt beliefert worden. Nach den blutigen Unruhen von 1984, bei denen es über 50000 Tote gab, hat noch jede indische Regierung versucht, die heißblütigen Bewohner der westbengalischen Hauptstadt bei Laune zu halten.“
Irgendwie paßte da einiges nicht zusammen. Kleinschmidt konnte verschiedene Fakten nicht miteinander in Einklang bringen.
„Und jetzt gibt es mit einem Mal kein Getreide mehr? Ja, um Himmels willen, wie soll das weitergehen?“
„Wie ich gehört habe …“ Man konnte fast sehen, wie sorgfältig Mahat seine Formulierungen wählte. „Wie ich gehört habe, ist seit etwa einer Woche kein Körnchen mehr angeliefert worden. Für mehr als eine Woche Vorräte hat es in Kalkutta noch nie gegeben. Und was die Bauern aus dem Umland jeden Morgen in die Stadt bringen, ist im Vergleich zum Bedarf ein Nichts.“
„Also müssen wir wieder mit Unruhen rechnen …“ stellte Kleinschmidt nüchtern fest. „Aber da wir sowieso nichts daran ändern können: Gerda, wollen wir jetzt nicht zu Kalis Tempel fahren?“
4
Die Göttin Kali gehört zum Pantheon des Hinduismus. In verschiedenen Sekten wird sie auch unter anderen Namen verehrt, etwa: Chamunda, Uma oder Durga. Kali ist eine Göttin des Blutes, und ihr bedeutendster Tempel befindet sich unweit des Marktes auf dem Kali-Ghat-Platz in Kalkutta.
Als der Mitsubishi-Sicherheitswagen mit den Kleinschmidts vorfuhr, kam Bewegung in die Schar der Bettler, die vor dem Eingang zum Heiligtum saß. Im Nu waren die Deutschen von Blinden, Verstümmelten und anderen Siechen und Krüppeln umgeben, die ihnen auffordernd ihre verdreckten Hände entgegenstreckten.
Inmitten der zerlumpten Schar stand unbeweglich, fast hoheitsvoll, ein Asket, die Arme verschränkt. Der noch junge Mann hatte sich, wohl in religiöser Verzückung, einen zweischneidigen Dolch durch beide Wangen gestoßen, so daß auf der einen Seite noch der Griff zu sehen war, auf der anderen bereits die Spitze der Waffe hervorragte.
„Das muß ich haben“, schrie da Gerda Kleinschmidt auf; sie meinte den Asketen, dessen Augen sie ruhig musterten.
„Wo ist mein Fotoapparat?“
Sie wandte sich um zum Wagen, den Mahat gerade wegfahren wollte. Nachdem der Chauffeur ihr den Apparat herausgereicht hatte, schoß sie eifrig eine ganze Serie von Bildern und ließ auch die kleine Gruppe der Leprakranken nicht aus, die sich vorsichtig etwas im Hintergrund hielt, um nicht mit den übrigen Bettlern in Streit zu geraten. Denn bis vor gar nicht so langer Zeit achtete die Polizei, im Auftrag des Gesundheitsministeriums, darauf, daß Lepröse nicht in der Öffentlichkeit auftauchten. Daß sie nun hier unbehelligt stehen konnten – auch das war ein Hinweis auf den zunehmenden inneren Verfall des indischen Staates.
Gerda Kleinschmidt jedenfalls bekam alle Bilder, die sie für zu Hause brauchte.
Währenddessen warf Klaus-Dieter Kleinschmidt einiges Kleingeld in die Menge und freute sich an der nun folgenden Balgerei, die nicht selten in handfesten Hieben endete.
„Ganz hervorragend, lassen Sie sich bloß nicht stören!“
Die Stimme aus dem Nirgendwo, die auf einmal ertönte, erschreckte beide Kleinschmidts.
„Gestatten, Bieber. Ich hörte, daß Sie Deutsche sind. Wir arbeiten für World-Wide TV.“
Ein hochgewachsener, bärtiger Mann trat auf sie zu und schüttelte ihnen die Hand. Nachdem auch die Kleinschmidts sich vorgestellt hatten, erfuhren sie, daß man hier in Kalkutta für WWTV an einer Dokumentation über Massenverelendung drehte. Eine der wenigen Filmproduktionen, die im Zeitalter der Elektronik überhaupt noch möglich war, wie Bieber, der sich als Produktionsleiter vorgestellt hatte, fast
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