Der große Ölkrieg
Licht.
„Willst du noch etwas mitnehmen?“ fragte Tycho. Seine Heimat war in den letzten Jahren eine Baracke gewesen, die er mit fünfzig Männern, Frauen und Kindern geteilt hatte. Aber er konnte das Mädchen gut verstehen.
Tycho kletterte als erster die Leiter hinab und half Monica dabei, so gut er konnte. Zuerst spürte er deutlich ihre Angst vor der Tiefe, aber dann wurde sie sicherer. Das war auch nötig, denn der schwerste Teil des Felsens stand ihnen noch bevor.
„Nicht hinuntersehen“, flüsterte er, während er ein festes Seil um ihre Taille band. Er selbst schlang es sich mehrmals um den Körper. „Du mußt vorangehen, damit ich dich halten kann, falls etwas schiefgeht“, flüsterte er erneut. Er zeigte ihr den Weg. „Gut festhalten, nur nach unten treten, wenn du absolut sicher bist, Monica. Und immer im Windschatten bleiben. Klar?“
„Klar.“
Die Verzweiflung setzte in beiden ungeahnte Kräfte frei. Nur ein einziges Mal rutschte Monica Remmer ab, fing sich aber selbst noch wieder, bevor Tycho das Seil ganz straff gezogen hatte.
Dann kam das Boot in Sicht. Noch zehn Meter. Das Ganze erschien ihnen so unwirklich wie ein Traum. Die Finger des Mädchens waren klamm vor Kälte und vor Anstrengung taub. Noch fünf Meter. Ihre Fingerkuppen bluteten, jeder einzelne Nagel war eingerissen. Schließlich sanken sie beide erschöpft in das wartende Boot.
Die Uhr zeigte an, daß sie jetzt keine Zeit mehr verlieren durften. Nachdem Tycho sich vergewissert hatte, daß in nächster Nähe auf dem Meer alles ruhig war, machte er die Leinen des schweren Ruderbootes los und stieß es aus der winzigen Bucht. Mit raschen Bewegungen der beiden Ruderblätter trieb er es gegen die Wellen ins Meer hinaus.
Sie hatten lange überlegt, ob Tycho ein Motorboot stehlen sollte. Aber das Geräusch konnte den Feind leicht heranlocken. Und trotzdem hätte er eines nehmen müssen, wenn der Wind die Deutsche Bucht stärker gepeitscht hätte als jetzt.
Tycho kämpfte mit den Wellen. Das Boot schaukelte wie eine Nußschale, aber es bewegte sich stetig in die Richtung, die er ihm abforderte. Monica duckte sich auf Tychos Weisung tief in das Boot hinein und krallte sich an den Leinen fest. Helfen konnte sie ihm nicht.
Die Insel Helgoland schmolz zu einem reliefhaften Gebilde am Horizont zusammen. Vor ihnen glühte die Energiekuppel. Wenn man genauer hinsah, konnte man winzige blauweiße Flämmchen an den Kuppelrändern lecken sehen.
Es ist Wahnsinn, dachte Tycho plötzlich. Wir schaffen es niemals. Wer weiß, wann sie in dieser Nacht den Schirm ausschalten. Ob sie es überhaupt tun. Vielleicht warten sie bis morgen. Oder eine Patrouille fischt uns in der Zwischenzeit auf.
Sie warteten. Noch hielten sie sich im toten Winkel der Leuchtfeuer auf. Über eine Stunde lang ging das so, wobei sich Tycho nicht eine Sekunde ausruhen konnte. Ständig mußte das Boot gegen die Wellen gelenkt werden. Um hier zu ankern, war es zu tief. Sie hatten nicht genügend Seil. Angestrengt starrte Tycho immer wieder auf die Energiekuppel.
Plötzlich sah er sie nicht mehr.
„Sie haben sie tatsächlich abgeschaltet“, flüsterte er gespannt. Er konnte es nicht fassen. Aber sie mußten noch warten!
Eine weiße Flammensäule schoß auf der Insel in den Himmel. Das Signal der Freunde. Jetzt!
Tycho biß die Zähne zusammen und pullte um ihrer beider Leben. Wie im Trancezustand nahm er wahr, daß der ersten Explosion in kurzen Abständen zwei weitere folgten. Wir müssen durch, war sein einziger Gedanke.
Irgendwann brach er erschöpft und mit brennenden Lungen über den Ruderblättern zusammen. Monica kroch besorgt durch das Boot auf ihn zu.
„Es tut mir leid“, keuchte Tycho. „Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig. Wir schaffen es nicht mehr …“
Monica küßte ihn stumm. Dann nahm sie seinen Kopf in beide Hände und hob ihn sanft nach oben.
„Sieh doch nur“, rief sie. Es klang, als ob ein Kloß in ihrer Kehle steckte.
Die Energiekuppel leuchtete, wenn auch etwas schwächer als zuvor. Sie krümmte sich leicht von ihnen weg. Über ihnen war der Himmel frei.
„Wir haben es tatsächlich geschafft“, seufzte Tycho. Die Freude würde später kommen. Im Moment dachte er an die Menschen, die unter der Kuppel zurückgeblieben waren. Er hoffte, daß die Freunde ihr Versprechen gehalten und den Kindern seiner Arbeitsgruppe eine Nachricht übermittelt hatten. Sie würden verstehen, daß er sie nicht hatte mitnehmen können. Aber er würde
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