Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
klopfte damit kräftig gegen das Becken. »So ist Ihre Wirbelsäule nach der Bestrahlung«, sagte er. »Ein Stoß, und Ihre Knochen könnten zerbröseln wie ein Cracker.«
Wir gingen auf die Damentoilette, jede in eine eigene Kabine, und weinten. Wir wechselten kein Wort. Nicht weil wir uns so allein in unserem Kummer gefühlt hätten, sondern weil wir so vereint in ihm waren, als hätten wir nur einen Körper statt zwei. Ich spürte, wie sich meine Mutter mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnte und mit den Händen langsam dagegenschlug, sodass die gesamte Kabinenkonstruktion wackelte. Später kamen wir heraus, wuschen uns die Hände und das Gesicht und beobachteten uns dabei in dem hellen Spiegel.
Wir wurden zum Warten in die Krankenhausapotheke geschickt. Ich saß in meinem grünen Hosenanzug zwischen meiner Mutter und Eddie, das grüne Band wie durch ein Wunder noch im Haar. Im Raum war auch ein alter Mann mit einem großen kahlköpfigen Jungen auf dem Schoß. Und eine Frau, deren Arm vom Ellbogen abwärts heftig schlenkerte. Sie hielt ihn mit der anderen Hand fest und versuchte, ihn ruhig zu stellen. Sie wartete. Wir warteten. Eine schöne dunkelhaarige Frau saß in einem Rollstuhl. Sie trug einen lila Hut und an jedem Finger einen Diamantring. Wir konnten die Augen nicht von ihr wenden. Sie sprach Spanisch mit ihren Begleitern. Angehörige und vielleicht ihr Mann.
»Glaubst du, sie hat Krebs?«, flüsterte mir meine Mutter laut zu.
Eddie saß auf meiner anderen Seite, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Hätte ich ihn angesehen, wären wir beide zerbröselt wie Cracker. Ich dachte an meine ältere Schwester Karen und meinen jüngeren Bruder Leif. An meinen Mann Paul und an die Eltern und die Schwester meiner Mutter, die anderthalbtausend Kilometer entfernt lebte. Was sie wohl sagen würden, wenn sie es erfuhren. Wie sie weinen würden. Mein Gebet war jetzt ein anderes: Ein Jahr, ein Jahr, ein Jahr. Diese beiden Wörter pochten wie ein Herz in meiner Brust.
So lange würde meine Mutter noch leben.
»Woran denkst du?«, fragte ich sie. Musik rieselte aus den Lautsprechern des Wartezimmers. Die Instrumentalversion eines Songs, aber meine Mutter kannte den Text und sang ihn mir leise vor, statt meine Frage zu beantworten. »Paper roses, paper roses, oh how real those roses seemed to be«, sang sie. Sie legte ihre Hand auf meine und sagte: »Als ich jung war, habe ich das Lied oft gehört. Komisch, wenn ich mir das so vorstelle. Dass ich jetzt dasselbe Lied höre. Das hätte ich nie gedacht.«
Der Name meiner Mutter wurde aufgerufen: Ihr Rezept war fertig.
»Hol es für mich«, sagte sie. »Sag ihnen, wer du bist. Sag ihnen, dass du meine Tochter bist.«
Ich war ihre Tochter, aber nicht nur. Ich war Karen, Cheryl, Leif. Karen Cheryl Leif. KarenCherylLeif. Mein Leben lang verschmolzen unsere Namen im Mund meiner Mutter zu einem. Sie flüsterte und brüllte ihn, sie zischte und säuselte ihn. Wir waren ihre Kinder, ihre Kameraden, ihr Ein und Alles. Im Auto durften wir abwechselnd bei ihr vorn sitzen. »Liebe ich euch so viel?«, fragte sie uns immer und hielt ihre Hände zwanzig Zentimeter auseinander. »Nein«, antworteten wir mit einem verschmitzten Grinsen. »Liebe ich euch so viel?«, fragte sie wieder und immer wieder, wobei sie ihre Hände jedes Mal ein Stück voneinander weg bewegte. Aber es genügte nie, ganz gleich wie weit sie die Arme spreizte. Ihre Liebe war so groß, dass ihre Arme nicht ausreichten. Sie ließ sich weder quantifizieren noch fassen. Sie war die zehntausend Dinge in der Welt des Tao Te King und noch zehntausend mehr. Ihre Liebe war bedingungslos, allumfassend und ungeschminkt. Jeden Tag ging sie bis an die Grenze der Erschöpfung.
Sie wuchs als Soldatenkind auf und wurde katholisch erzogen. Sie lebte in fünf verschiedenen Bundesstaaten und zwei Ländern, bevor sie fünfzehn war. Sie liebte Pferde und Hank Williams und hatte eine beste Freundin namens Babs. Mit neunzehn wurde sie schwanger und heiratete meinen Vater. Drei Tage später prügelte er sie durch die Wohnung. Sie verließ ihn und kam zurück. Verließ ihn und kam zurück. Sie wollte es sich nicht gefallen lassen, aber sie tat es. Er brach ihr die Nase. Er zerschlug ihr Geschirr. Er schleifte sie am helllichten Tag an den Haaren über den Bürgersteig, sodass sie sich die Knie aufschürfte. Aber er konnte ihren Willen nicht brechen. Mit zweiundzwanzig schaffte sie es, ihn endgültig zu verlassen.
Sie war allein mit
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