Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
jedenfalls so weit, wie ich in hundert Tagen kam. Ich lebte damals getrennt von meinem Mann in einer Einzimmerwohnung in Minneapolis und jobbte als Kellnerin, so tief gesunken und durcheinander wie nie zuvor in meinem Leben. Jeden Tag hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen und nach oben zu blicken. Aber auf dem Grund dieses Brunnens machte ich mich daran, eine Solo-Wildnis-Trekkerin zu werden. Und warum auch nicht? Ich war schon so vieles gewesen. Eine liebende Frau und Ehebrecherin. Eine geliebte Tochter, die ihre Feiertage allein verbrachte. Eine ehrgeizige Streberin und ambitionierte Autorin, die sich von einem Verlegenheitsjob zum nächsten hangelte, gefährlich mit Drogen experimentierte und mit zu vielen Männern schlief. Ich war die Enkelin eines Bergmanns aus Pennsylvania, die Tochter eines Stahlarbeiters, der auf Vertreter umgesattelt hatte. Nach der Trennung meiner Eltern lebte ich mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester in Wohnsiedlungen, die allein erziehende Mütter und ihre Kinder bevölkerten. Als Teenager lebte ichim Norden Minnesotas weit draußen auf dem Landin einem Haus ohne Innentoilette, Strom und fließend Wasser. Dennoch wurde ich an der Highschool Cheerleader und Homecoming Queen, ging anschließend aufs College und wurde auf dem Campus eine radikale, linke Feministin.
Aber eine Frau, die tausendsechshundert Kilometer allein durch die Wildnis wandert? Ich hatte nie etwas Vergleichbares getan. Aber einen Versuch war es wert. Ich hatte nichts zu verlieren.
Als ich jetzt barfuß auf diesem Berg in Kalifornien stand, kam es mir so vor, als wäre es Jahre her, dass ich die wohl unsinnige Entscheidung getroffen hatte, mich allein zu einer langen Wanderung auf dem PCT aufzumachen, um mich zu retten. Als wäre es in einem anderen Leben gewesen, dass ich glaubte, alles, was ich davor gewesen war, hätte mich auf diese Wanderung vorbereitet. Aber nichts hatte mich darauf vorbereitet, und nichts hätte mich darauf vorbereiten können. Jeder Tag auf dem Pfad war die einzig mögliche Vorbereitung auf den nächsten. Und manchmal bereitete mich nicht einmal der darauf vor, was am nächsten geschehen würde.
Wie zum Beispiel darauf, dass meine Stiefel unwiederbringlich von einer Bergflanke segelten.
In Wahrheit sah ich den Verlust mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sechs Wochen lang war ich in diesen Stiefeln durch Wüsten und Schnee gewandert, vorbei an Bäumen, Sträuchern, Gräsern und Blumen aller Formen, Farben und Größen, bergauf und bergab, über Wiesen und Waldlichtungen und durch Landstriche, über die ich nichts Näheres sagen konnte, nur, dass ich dort gewesen war, dass ich sie durchquert hatte und gut durchgekommen war. Und in diesen Wochen hatte ich mir in diesen Stiefeln die Füße wund gelaufen, mir Blasen und blaue Zehennägel geholt, von denen sich vier ablösten, was mit großen Schmerzen verbunden war. An dem Tag, als ich die Stiefel verlor, war ich fertig mit ihnen und sie mit mir, obwohl ich zugeben muss, dass sie mir ans Herz gewachsen waren. Sie waren für mich keine leblosen Objekte mehr, sondern ein Teil von mir, wie so ziemlich alles, was ich in diesem Sommer schleppte – Rucksack, Zelt, Schlafsack, Wasserfilter, Kocher und die kleine orangerote Pfeife, die ich anstelle einer Schusswaffe dabeihatte. Alle diese Gegenstände waren mir vertraut. Ich konnte mich auf sie verlassen, sie halfen mir durchzukommen.
Ich spähte hinab auf die Bäume, deren hohe Wipfel sich im heißen Wind wiegten. Sollen sie meine Stiefel ruhig behalten, dachte ich und blickte über das herrliche weite Grün. Dieser Aussicht wegen hatte ich beschlossen, hier zu rasten. Es war ein Spätnachmittag Mitte Juli, und ich war kilometerweit von jeder Zivilisation entfernt, Tage von der einsamen Poststelle, wo das nächste Versorgungspaket auf mich wartete. Es war durchaus möglich, dass mir jemand auf dem Pfad entgegenkommen würde, aber nicht sehr wahrscheinlich. Gewöhnlich wanderte ich tagelang, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Aber es spielte ohnehin keine Rolle, ob jemand vorbeikam. Mit dieser Sache musste ich allein fertigwerden.
Ich blickte auf meine nackten, geschundenen Füße mit dem traurigen Rest meiner Zehennägel. Sie waren gespenstisch blass bis zu den Linien ein paar Zentimeter über den Knöcheln, wo die Wollsocken, die ich normalerweise trug, endeten. Die Waden darüber waren muskulös, goldbraun und behaart, schmutzverkrustet und voller blauer
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