Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
funkelnden Sterne Gesellschaft leisteten. Manchmal sah ich ihre erhabene Schönheit in solcher Klarheit, dass mir auf eindringliche Weise bewusst wurde, wie recht meine Mutter hatte. Ja, ich würde ihr eines Tages dankbar sein, und ich war ihr jetzt schon dankbar, denn ich fühlte etwas in mir wachsen, das stark und real war.
Auf das, was da in mir wuchs, sollte ich mich Jahre später besinnen, als Trauer mein Leben aus der Bahn warf. Es gab mir den Glauben, dass mich eine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail wieder zu dem Menschen machen konnte, der ich einmal gewesen war.
An Halloween zogen wir in das Haus, das wir aus Baumstämmen und Abfallholz gebaut hatten. Es hatte weder elektrischen Strom noch fließend Wasser, weder Telefon noch Innentoilette, noch nicht einmal ein Zimmer mit Tür. Meine ganze Teenagerzeit hindurch bauten Eddie und meine Mutter daran weiter, vergrößerten und verbesserten es. Meine Mutter legte einen Garten an, und im Herbst wurde das Gemüse von ihr eingemacht oder eingefroren. Sie zapfte Bäume an und kochte Ahornsirup, backte Brot, kämmte Wolle und stellte aus Löwenzahn und Brokkoliblättern ihre eigenen Textilfarbstoffe her.
Ich wurde älter und wechselte auf das St. Thomas College in Saint Paul, der Zwillingsstadt von Minneapolis, aber nicht ohne meine Mutter. In der Aufnahmebestätigung, die ich erhielt, wurde erwähnt, dass Eltern von Studenten gebührenfrei am St. Thomas studieren konnten. Sosehr meine Mutter ihr Leben als moderne Pionierin auch liebte, so hatte sie doch immer von einem Studium geträumt. Wir lachten beide darüber und dachten dann gemeinsam darüber nach. Sie sei jetzt vierzig, zu alt fürs College, sagte meine Mutter, und ich konnte ihr nicht widersprechen. Außerdem lag St. Thomas drei Autostunden entfernt. Wir redeten und redeten und trafen schließlich eine Abmachung: Sie würde aufs College gehen, aber wir würden getrennte Leben führen, diktiert von mir. Ich würde mir ein Zimmer im Studentenwohnheim nehmen, und sie würde hin und her fahren. Wenn sich unsere Wege auf dem Campus kreuzten, würde sie mich nur grüßen, wenn ich sie zuerst grüßte.
»Wahrscheinlich ist das alles für die Katz«, sagte sie, als die Sache beschlossen war. »Wahrscheinlich fliege ich eh wegen schlechter Noten.« Zur Vorbereitung und Einarbeitung machte sie alle Hausaufgaben, die ich in den letzten Monaten meines letzten Highschool-Jahres aufhatte, und erweiterte ihre Kenntnisse. Sie kopierte mein Unterrichtsmaterial, schrieb Referate über dieselben Themen wie ich, las jedes einzelne Buch. Ich benotete ihre Arbeiten, wobei ich die Korrekturen meiner Lehrer als Maßstab nahm. Nach meiner Beurteilung war sie bestenfalls eine Wackelkandidatin.
Sie ging aufs College und bekam glatte Einsen.
Manchmal umarmte ich sie überschwänglich, wenn ich ihr auf dem Campus begegnete, dann wieder rauschte ich an ihr vorbei, als wäre sie eine völlig Fremde.
Wir waren beide im letzten College-Jahr, als wir erfuhren, dass sie Krebs hatte. Zu dem Zeitpunkt gingen wir nicht mehr aufs St. Thomas. Nach dem ersten Jahr waren wir an die University of Minnesota gewechselt – sie an den Campus in Duluth, ich nach Minneapolis –, und zu unserer großen Erheiterung hatten wir ein Hauptfach gemeinsam. Sie studierte im Hauptfach Women’s Studies und Geschichte, ich Women’s Studies und Englisch. Abends telefonierten wir oft eine Stunde lang miteinander. Ich war inzwischen verheiratet, mit einem wunderbaren Mann namens Paul. Wir waren im Wald auf unserem Grundstück getraut worden, ich in einem weißen Satinkleid mit Spitzen, das meine Mutter genäht hatte.
Nach ihrer Erkrankung erfuhr mein Leben einen Bruch. Ich sagte zu Paul, dass er nicht mehr auf mich zählen könne. Ich würde kommen und gehen müssen, wie es der Zustand meiner Mutter erforderte. Ich wollte das Studium abbrechen, aber meine Mutter verbot es mir und flehte mich an, auf jeden Fall meinen Abschluss zu machen, egal was passierte. Sie selbst nahm eine Auszeit, wie sie es nannte. Ihr fehlten nur noch zwei Scheine zum Bachelor, und die werde sie auch machen, sagte sie, und wenn es sie das Leben koste. Wir lachten, und dann sahen wir einander traurig an. Sie werde im Bett arbeiten. Sie werde mir sagen, was ich zu tippen hätte, und ich würde es tippen. Sie würde stark genug sein, diese beiden Kurse bald in Angriff zu nehmen, davon sei sie überzeugt. Ich blieb auf dem College, rang aber meinen Dozenten die Erlaubnis ab, nur noch
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