Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
überlassen, ob er ihr Anknüpfungspunkte zum Erfassen und Durcharbeiten zuführen wolle, und einen bedenklichen Hang zur Trägheit, anstatt die Dinge zu schütteln und das Wesentliche aus freiem Entschlusse an die Oberfläche und an sich heranzuziehen. Jene leben daher in munterer Begehungssünde, diese leiden an Unterlassungssünden.
Heinrich fühlte plötzlich, daß er, was wenigstens das Unterlassen betrifft, bis anher zu der letzteren Sündenschar gehört habe, als der Professor die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen über den sogenannten freien Willen abschloß. Denn obgleich er schon hundertmal diesen Ausdruck gehört und gelesen, auch genügsam wilde Philosophie und Theologie, wie sie in seinem Garten wuchs, getrieben hatte, so war es ihm doch noch nie eingefallen, darüber nachzudenken, oder hielt höchstens den »freien Willen« für eine Art müßigen Lückenbüßers für zusammengesetzte Dinge, woran er nicht ganz unrecht tat, nur daß er dazu nicht reif und befähigt war, ehe er die fragliche Sache näher kannte und verstand. Es gibt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, sondern auch aufzubauen wissen müsse, welche von gemütlichen und oberflächlichen Leuten allerwege angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Tätigkeit oder Disziplin unbequem in den Weg tritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo man abspricht oder negiert, was man nicht durchlebt und durchdacht hat, sonst aber ist sie überall ein Unsinn; denn man reißt nicht immer nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum für das Licht und die frische Luft der Welt zu gewinnen, welche von selbst überall da Platz nehmen, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den Dingen ins Gesicht sieht und sie mit Aufrichtigkeit gegen sich selbst behandelt, so ist nichts negativ, sondern alles ist positiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen, und die wahre Philosophie kennt keinen andern Nihilismus als die Sünde wider den Geist, d.h. das Beharren im selbstgefühlten Unsinn zu einem eigennützigen oder eitlen Zwecke.
Was aber Heinrich besonders zu seinen Gedanken über den freien Willen antrieb, das war die auffallende Energie, welche in den kurzen Bemerkungen des Lehrers lag, gegen dessen sonstige Gewohnheit in solchen heiklen Punkten. Denn es war das Steckenpferd des sonst durchaus unbefangenen und duldsamen Mannes, die Lehre vom freien Willen des Menschen überall anzugreifen und abzutun, wo und wie er ihr nur beikommen konnte, und er ließ sich desnahen sogar in seinen Vorlesungen an dieser Stelle jedesmal zu einer kurzen, aber sehr kräftigen Demonstration gegen das Dasein der moralischen Kraft, die man freien Willen nennt, hinreißen in einem auf die Spitze getriebenen materialistischen Sinne. Diese Absonderlichkeit war nun zwar durchaus keine negative nihilistische Manie, sondern sie ruhte auf der »positiven« Grundlage einer durchgeführten Nachsicht und Geduldsamkeit für die Irrtümer, Schwächen und trübselig tierischen Handlungen der schlechtbestellten Menschenkinder; aber nichtsdestominder hatte sie ihren Grund in der unglücklichen Neigung vieler, selbst ausgezeichneter Naturalisten, auch an ungehöriger Stelle die Materie auf abstoßende und ganz überflüssige Weise zu betonen. Wenn man aus einem grünen Tannenbaum drei Dinge macht eine Wiege, einen Tisch und einen Sarg, so sagt man nicht, solange diese Dinge ihre nutzbare Bestimmung erfüllen bringt mir das Tannenholz, das dermalen eine Wiege formiert; setzt euch an das Tannenholz, welches auf vier Beinen sich zum Tische erhebt, legt mich in das sechsbretterige Tannenholz; sondern man nennt diese Gegenstände schlechtweg eine Wiege, einen Tisch und einen Sarg, und erst wenn sie ihre vergängliche Bestimmung erfüllt haben, erinnert man sich wieder an das Holz, aus welchem sie gemacht, und man sagt beim Anblicke ihrer Trümmer Dies ist altes Tannenholz, lasset es uns verbrennen; alles zu seiner Zeit!
Ihre Zeit hat auch die Rose. Wer wird, wenn sie erblüht, um sie herumspringen und rufen He! dies ist nichts als Pottasche und einige andere Stoffe, in den Boden damit, auf daß der unsterbliche Stoffwechsel nicht aufgehalten werde! Nein, man sagt Dies ist zurzeit eine Rose für uns und nichts anderes, freuen wir uns ihrer, solange sie blüht!
Während Schiller, der idealste Dichter einer großen Nation, seine unsterblichen Werke schrieb, konnte er nicht anders arbeiten, als wenn eine Schublade
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