Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
Schuld; aber die Schuld der Alten war eben, daß ein Moment der Unaufmerksamkeit für dieses Alter unwiederbringlich und zu einer Todsünde werden konnte.
Einst wurde uns ein edler stiller Mann vorgeführt, welcher uns die Pflanzenkunde lehren sollte. Er begann mit langsamen, faßbaren Worten ganz von vorne, wir hatten ganz reinen Tisch, und er fuhr so fort, daß nur die wirklich stumpfen Geister zurückblieben. Nachdem er uns die äußerliche Stellung der Pflanzen in der Natur klargemacht und uns für sie eingenommen hatte, ging er auf ihre allgemeinen Eigenschaften und auf die Erklärung ihres Organismus über, wobei wir die ersten Blicke in die Bedeutung dieses Wortes erhielten, welche wir von nun an nicht vergaßen. Schon freuten wir uns der nahen Aussicht, einige Kenntnis im Bestimmen der einzelnen Gewächse zu erhalten, und mehr als einer war vielleicht in der Klasse, bei welchem eine einflußreiche Anhänglichkeit an die Natur und ihre Kenntnis geweckt worden wäre, als der von uns trotz seiner Einsilbigkeit hochgehaltene Lehrer erkrankte und den Unterricht aufgeben mußte. Statt daß nun ein anderer Botanikbeflissener gesandt worden wäre, welcher auf Grund unserer sämtlich musterhaften Hefte fortzufahren versucht hätte, wurde das Ganze unverhofft abgebrochen, und ein geistlicher Herr, welcher als Dilettant etwas Naturwissenschaft trieb, überfiel uns mit einem Heere wilder Bestien, indem er uns etwas aphoristische Zoologie vortrug. Während wir so mit jener liebgewonnenen Botanik ein organisches Ganzes verloren, erhielten wir dafür nur einige Tiergestalten; denn die Zoologie, welche man vierzehnjährigen Knaben lehrt, nährt nicht ihren Geist, weil sie ohne vergleichend anatomische Kenntnisse, mit einem Worte ohne wissenschaftliche Anknüpfungen bloßes Futter für die Neugierde ist.
Solches blindes Einwirken des Zufalles in unser Fortschreiten kam mehr als einmal vor, und es verletzt das ohnehin zarte Gewebe des zusammenhängenden Verständnisses rauher, als man denkt.
Ich hatte ein sehr gutes Gehör und war ein eifriger Sänger. Wir hatten für die erste Schulzeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren Theorie verwechselt wurde. Die erste Stunde, in welcher der Musikus etwas über die Bedeutung und allgemeine Einrichtung derselben gesagt haben mochte, war ich abwesend, und als ich wieder eintraf, fand ich meine Mitschüler im ängstlichen Lesen der verschiedenen Skalen und Tonarten begriffen. Ich war nun ein für allemal vor die Tür gesetzt; wenn wir sangen, nachdem der Lehrer auf seiner Geige den Ton angegeben, krähete ich mit heller Stimme, traf immer sicher und wurde öfter gebraucht, die Höhe des Tones zu halten. Sollte ich aber das Lied lesen, so stockte ich bald und wurde als böswillig bezeichnet.
Überall war dieser unselige Zwiespalt zwischen klarem Zweck und scheinbarer Zwecklosigkeit, zwischen vorausgenommener Fertigkeit in diesem Ganzen und nachschleppendem Unverständnis jenes Einzelnen. Und doch war die Anstalt gut und besser als viele andere; denn das Übel liegt oder lag in der ganzen Erziehungsweise, in den verwendeten Menschen. Der Staat gibt die rechte Parole und bringt die größten Opfer, mit denen er seiner Ehre genügt; aber ehe sie Früchte tragen, muß die ganze alte Generation der Pädagogen aussterben und ein neues Geschlecht entstehen, welches ein ganz anderes Fühlen, Sehen und Hören mitbringt als das alte.
Doch als ich mich ungefähr dem funfzehnten Jahre näherte und die Stimme sich zu verändern begann, brach durch alle Verwirrung hindurch ein helleres Licht; in dem Maße als man uns Heranwachsende ernster, aber auch rücksichtsvoller behandelte, fing an die eigentliche Lernbegierde aufzutauen, und wie ich ahnte, daß alle Kenntnisse wohl ineinander münden und sich zu einem lichten Zwecke verflechten würden, lernte ich die wirkliche und gewissenhafte Mühe kennen, welche nicht nur mit dem Talente spielen, sondern auch mit Lust arbeiten kann. Ich freute mich mit andern auf die höheren Klassen, welche wir bald antreten sollten, und wir warfen hoffnungsvolle Blicke in die wohlbestellten und geordneten Sammlungen, auf die mannigfaltigen Mittel, die jenen zu Gebote standen, auf das gesetzte und selbständigere Wesen, das dann seinen Anfang nehmen sollte. Ich fühlte die Wichtigkeit und nötige Fruchtbarkeit der nächsten Jahre; zu welchem Lebensberufe ich mich dann entscheiden würde, darüber konnte ich mir
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