Der grüne Stern
zum Leben erwachter Held fortzusetzen. Es mochte angenehm und schmeichelhaft sein, sich als Reinkarnation eines berühmten Drachentöters feiern zu lassen, aber wie, wenn meine königliche Gastgeberin mich plötzlich aufforderte, die Heldentat zu wiederholen?
Teil II
Das Buch von Niamh der Lieblichen
6. Der Schatten Akhmims
Das Festbankett dieses Abends unterschied sich von denen, die ich bis dahin erlebt hatte, allenfalls darin, daß es noch länger dauerte und noch langweiliger war. Hatte ich zuerst geglaubt, es liege im Ermessen der Prinzessin, diese und andere Auswüchse des Hofzeremoniells zu beschneiden oder ganz abzuschaffen, so war mir inzwischen klargeworden, daß es so einfach nicht war.
Das Leben der Prinzessin war auf allen Seiten von jahrhundertealten Traditionen und Ritualen umstellt, und obwohl vielen von ihnen längst jede praktische Bedeutung und jeder tiefere Sinn abhanden gekommen war, wog ihr Gewicht so schwer, daß der Versuch, sich aus dieser Zwangsjacke von erstarrten Überlieferungen zu befreien, wahrscheinlich eine Staatskrise oder eine Palastrevolte heraufbeschworen hätte.
Daß die Prinzessin von Phaolon gehalten war, in regelmäßigen Abständen Festgelage für Vertreter des Adels zu geben, gehörte noch zu den Traditionen, denen ein vernünftiger Grund nicht abzusprechen war. Es handelte sich ursprünglich um ein symbolisches Zurschaustellen der gegenseitigen Abhängigkeit von Souverän und Adel, ritualisiert in einer gemeinsamen Mahlzeit. Doch was in einfacherer Form einmal eine Möglichkeit gewesen sein mochte, Verbundenheit zu demonstrieren und Meinungsaustausch zu pflegen, war im Lauf der Zeit zur bloßen Schaustellung von Prestigesucht in feierlichem Schwulst erstarrt.
So auch an diesem Abend. Die nicht enden wollende Mahlzeit von dreißig oder vierzig Gängen war garniert mit den vorgeschriebenen, ebenso blumenreichen wie inhaltslosen Ansprachen, mit zeremoniellen Tänzen und Rezitationen von Gedichten, mit gezierten Artigkeiten und obskuren traditionellen Gesten wie dem Vergießen von drei Tropfen aus jedem Weinglas in silberne Präsentierteller, die von einer endlosen Folge von Pagen im Bankettsaal herumgetragen wurden, ohne erkennbaren Sinn und Zweck.
Während bestimmte Gänge aufgetragen wurden, verbrannten Priester in verschiedenen Gewändern an verschiedenen kleinen Altären, die hier und dort aufgestellt waren, bestimmtes Räucherwerk. Etwas wie Kiefernharz wurde verbrannt, als ein Gang aus kleinen Würfeln nach Rind schmeckenden Fleisches in Cremesoße serviert wurde, die mit winzigen Silbergabeln aufgespießt werden mußten; zu einem Gang panierter Fische wiederum wurde in einer großen Kupferpfanne ein schweres, süßliches Zeug geröstet, das wie Myrrhe roch; ein scharfes und stechendes Räucherwerk dagegen, das nach mit Schwefel bestreuten Fichtennadeln stank, wurde zu einem Gang weißer, in süßem Wein gekochter Fleischschnitten in die Glut eines Kohlenbeckens geschüttet.
Niemand wußte mehr, warum oder wie diese Bräuche entstanden waren, aber entstanden waren sie, und waren sie erst einmal durch einige Jahrhunderte der Tradition geheiligt, hatten sie ihren festen Platz im höfischen Zeremoniell, und niemand wollte und konnte sie wieder daraus vertreiben.
Es war ein Glück für mich, daß man nicht von mir verlangte eine von den umständlichen, nichtssagenden Ansprachen zu halten, blumige Komplimente zu machen oder aus dem Schatz der nationalen Dichtkunst zu rezitieren. Ich wurde während der Festlichkeiten höflich ignoriert, denn alle sahen ein, daß jemand, der erst vor kurzem aus der Oberwelt – oder dem Himmel – zurückgekehrt war, eine Periode der Akklimatisation nötig hatte. So stocherte ich in den zahllosen Gängen herum, goß Wein in mich hinein und versuchte für mich allein, den pompösen Umständlichkeiten eine heitere Seite abzugewinnen.
Dies gelang mir noch am ehesten, wenn die Teilnehmer am Festbankett einander mit Komplimenten und Lobhudeleien überhäuften, zu denen es gehörte, daß der jeweilige Adressat mit seinem vollen Titel angesprochen wurde. Da gab es einen Obersten Bewahrer der neun Elfenbeinstäbe, einen Geheimen Hüter des Silbernen Buches, einen Höchsten Verwalter der Scharlachroten Flasche, und so fort.
Noch nie hatte ich den Obersten Bewahrer mit einem Stab irgendeiner Art gesehen, schon gar nicht mit einem aus Elfenbein. Der Höchste Flaschenverwalter hatte eine bemerkenswerte Vorliebe für die Weinflasche, daran war
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