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Der grüne Stern

Der grüne Stern

Titel: Der grüne Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lin Carter
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Tradition nur das männliche Geschlecht befähigt, Herrschaft auszuüben. Eine regierende Königin stellte in der tausendjährigen Geschichte eine unerhörte Neuheit dar. Zwar verhielt es sich nicht so, daß eine weibliche Herrscherin nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen verboten war; aber es war einfach etwas Neues, Seltsames und nie Dagewesenes. Und für die furchtsamen und abergläubischen Laonesen, deren Leben von althergebrachten Sitten und Ritualen bestimmt wurde, war das Neuartige und Ungewohnte von vornherein Ketzerei – oder zumindest hochverdächtig.
    Auch Niamh war eine Sklavin der Tradition, mehr noch als andere, aber für sie gab es immerhin einen Ausweg: die Kunst eines Monarchen besteht darin, Tradition so zu interpretieren, daß sie dem königlichen Willen dient. Und der Wille eines regierenden Herrschers wird weniger streng an den Maßstäben der geisterhaften Autorität der Vergangenheit gemessen als der Wille der Beherrschten – wenn sie sich einen leisten können.
    Seit unvordenklichen Zeiten hatte es Spannungen zwischen den beiden Baumstädten gegeben, jedoch keinen Krieg – dieser Brauch war auf der Welt des grünen Sterns glücklicherweise zur seltenen Ausnahme geworden –, aber eine gewisse Animosität, die durch Rivalität genährt wurde. Die Leute von Phaolon waren seit dem Tod ihres letzten Herrschers, der keinen Sohn als Thronfolger hinterlassen hatte, in einem Dilemma. Auf der einen Seite besagten Sitte und Tradition, daß eine Prinzessin nicht allein regieren könne; auf der anderen Seite verabscheuten sie die Vorstellung, durch eine Ehe ihrer unerfahrenen Prinzessin unter das Joch des unwillkommenen und ungeliebten Tyrannenprinzen von Ardha zu kommen.
    Niamh hatte mit der Unterstützung ihrer Berater den Brauch männlicher Herrschaft gegen die traditionelle Abneigung der Leute von Phaolon gegen die Ardhaner abgewogen und sich für die Alleinregierung entschieden.
    Am Tag meiner Auferstehung war Akhmim von Ardha mit einem Ultimatum gekommen. Der Wille der Götter, die Traditionskette von hundert Königen, die Notwendigkeit fester Autorität, die Wahrung überkommenen Brauchtums verlangten, so sagte er, daß sie einen Prinzen von ebenbürtigem Rang heirate und ihm das Primat einräume. Nur die Götter der Oberwelt wüßten, welches Unheil über die Welt kommen würde, wenn eine Frau sich weiterhin am Thron von Phaolon festklammern würde, in blinder Mißachtung von Tradition und Oberlieferung. Glaube die Prinzessin Niamh in ihrer Torheit, fragte er höhnisch, sie besitze ein geheimes Zeichen von den Göttern, daß die Oberwelt ihre freche Anmaßung dulden werde?
    Und in diesem Moment hatte ich mich aus dem zersplitternden Sarkophag erhoben.
    Kein Wunder, daß Akhmim aus dem Gleichgewicht geraten war. Welches Zeichen hätte in jener Situation dramatischer sein können als die plötzliche Auferstehung des totgeglaubten Helden?
    Niemand konnte der Prinzessin von Phaolon verargen, daß sie Chongs wunderbare Rückkehr ins Reich der Lebenden als Zeichen der Götter interpretierte. Schon der Zeitpunkt des Ereignisses bestätigte es. Eine dramatischere und überzeugende Bestätigung ihrer Thronrechte war schwerlich denkbar. Die jähe Wiedergeburt des mächtigen Chong, des legendären Helden und mythischen Verteidigers ihrer Dynastie im Zeitalter ihrer Vorväter, hatte Niamhs gefährdete Position mit einem Schlag unangreifbar gemacht.
    Akhmim, geschlagen und im Innersten getroffen, war verwirrt aus dem Palast und der Stadt, die er schon als seinen Besitz betrachtet haben mochte, geflohen. Seither war keine Nachricht von ihm gekommen.
    Aber sein Schatten lag wie eine unheilverkündende dunkle Wolke über der juwelenreichen Baumstadt. So nahe war er seinem Ziel gewesen, so überraschend hatte das Schicksal den begehrten Thron seinem Zugriff entzogen, daß nur wenige glauben konnten, er werde keinen neuen Versuch machen, seine Wünsche durchzusetzen.
    Und ich war das einzige Hindernis auf seinem Weg.

7. Der Hochzeitstanz der Libellen
    Die Zeit kam, da ich die vokalreiche, musikalische Sprache der Laonesen endlich fließend beherrschte. Die relative Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der ich sie mir angeeignet hatte, war mir nur in der ersten Zeit ein Anlaß zu Befriedigung und Stolz gewesen. Später hatte ich die Tatsache eher beunruhigend gefunden, war es doch nicht so wie das Erlernen einer wirklich fremden Sprache, sondern mehr wie das Erinnern einer Sprache, die ich vor vielen Jahren

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