Der Heiler
ihre FuÃsohlen, umfasse die Zehen. Sie passen komplett in meine geschlossene Hand.
»Da ist noch etwas anderes. Etwas, worüber ich eigentlich nicht reden möchte«, sagt sie nach einer Weile.
»Dann lass es.«
»Es liegt mir aber schon auf der Zunge.«
»Dann muss es wohl raus.«
Sie wartet noch einen Moment. »Was ist, wenn einem von uns mal etwas passierten sollte.«
»Etwas Schlimmes?«, frage ich. »Oder etwas Unwiderrufliches?«
»Ist da ein Unterschied?«
»Ein groÃer sogar.«
»Was, wenn einer von uns stirbt?«
»Dann bleibt der andere am Leben, vermutlich.«
»Richtig.«
Ich höre durchs offene Küchenfenster, wie jemand sein Rad im Innenhof in den Ständer stellt und es anschlieÃt. Dann wird die Tür zum Treppenhaus geöffnet und wieder geschlossen.
»Das Leben geht weiter«, sage ich.
»Du sagst immer, dass das Leben weitergeht.«
»Weil es das auch immer tut.«
»AuÃer wenn es endet.«
»Ich weià nicht«, sage ich. »Alles zu seiner Zeit.«
»Falls mir etwas zustöÃt«, sagt Johanna, »hoffe ich, dass du dann nicht gelähmt verharrst, sondern dass du dein Leben weiterführst.«
»Sehe ich genauso«, sage ich.
Der Staub findet immer weniger Lichtstrahlen, in denen er tanzen kann.
»Und falls mir irgendwann etwas zugestoÃen ist«, sagt Johanna, »und du dein Leben falsch weiterführst, komme ich und beschwere mich darüber.«
»Ich habe geahnt, dass das Ganze einen Haken hat.«
»Natürlich hat es einen«, sagt Johanna.
Ich massiere ihre FüÃe und sehe, dass sie die Augen schlieÃt. Weiche und schützende Dunkelheit umgibt uns, und in Johannas Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln. Bald wird sie entweder einschlafen oder anfangen zu lachen.
15 »Du musst das verstehen«, sagte Elina. Aber es klang lasch, und sie schien selbst nicht an ihre Worte zu glauben.
Das Ende unserer Freundschaft war kein Knall, es war Enttäuschung und Niederlage. Ahti schwieg. Ich ging in den Flur, zog mir die Jacke und die Schuhe an. In der Tür drehte ich mich aus irgendeinem Grund noch einmal um. Ahti und Elina standen am anderen Ende des Flurs. Ebenso gut hätten sie auf dem Mond stehen können.
Was sollte ich sagen? Dass wir die schönen Erinnerungen zurückbehalten und nur an die guten Zeiten denken sollten, an all das Angenehme, das wir zusammen erlebt hatten? Dass wir uns nicht von Kleinigkeiten das groÃe und vielleicht irgendwo noch heile Ganze vermiesen lassen sollten? Ich ging die Alternativen durch, und mir fiel nichts Besseres ein, als: »Tschüs.«
Wie heiÃt es doch so schön? Wenn man im Leben sonst nichts lernt, dann zumindest, leise zu gehen.
Ich verlieà das Haus und trat auf die StraÃe. Ganz in Gedanken versunken steuerte ich die Kreuzung an, die ich mir erfolglos auf dem Video der Ãberwachungskamera angesehen hatte.
Die Sonne war längst untergegangen, der Himmel hatte sich endgültig verdunkelt. Der Regen, der weder Anfang noch Ende kannte, hatte für einen Moment seinen Eifer verloren. Es fielen vereinzelte Tropfen. Die hupenden Autos und drängelnden FuÃgänger waren mir allesamt scheiÃegal. Ich hatte keine Kraft mehr, mich aufzuregen.
Von irgendwoher stank es penetrant nach brennendem Plastik, aber auch das lieà mich kalt. Der Geruch verfolgte mich mehrere Minuten lang. Ich wischte mir die Regentropfen aus dem Gesicht und merkte, dass meine Handschuhe weg waren. Auf der anderen StraÃenseite hatte eine Disco ihre Türen geöffnet und warb mit gleichmäÃigem, betäubendem Dröhnen um Gäste. Ich sah auf mein Handy. Die Zeit verging, und Johanna rief nicht an.
Die letzten zwei Tage waren wie ein ganzes Leben gewesen: gierig, hastig, verzweifelt. Busse und Autos schossen an mir vorbei, ihre Motoren brüllten, die Abgase reizten meine Schleimhäute, der Benzingeruch würgte mich in der Kehle. Eine Gruppe Jugendlicher kam mir entgegengerannt und zwang mich zu einem Ausweichmanöver. Sie schrien sich in einer fremden Sprache an, während sie vor etwas flüchteten. Zwei Wachmänner folgten ihnen und forderten sie auf Finnisch auf, stehen zu bleiben. Die Jugendlichen liefen weiter.
Ich erreichte die Kreuzung und sah nach oben zur Kamera an der Hauswand in etwa zehn Metern Höhe. Ich bekam Tropfen ins Auge, so als wollten sie mich wecken.
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