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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasna Mittler
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Nicht einmal das Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden. Am liebsten würde Gott ihn verprügeln, aber Er weiß, dass das zu weit geht. Schließlich resigniert Er und stopft das Heftchen in Erwins Schlafsack. Mit zusammengebissenen Zähnen bahnt Er sich einen Weg durch die Reihen der Gaffer, die sich daraufhin sogleich zerstreuen.



12

    D ie Straße mündet auf einem großen Platz. »Neumarkt« steht auf dem Schild bei der U-Bahn-Station, und es ist tatsächlich ein Markt aufgebaut, auf den Gott jetzt zuhält. Viele kleine hölzerne Buden, weihnachtliche Musik – an jedem Stand eine andere Melodie – und Lichterketten, Engelchen, Tannenzweige, Glöckchen, alles da. Obwohl es noch nicht einmal Mittag ist, liegt schon wieder ein Hauch von Glühweinaroma in der Luft, gepaart mit der schweren Süße gebrannter Mandeln. Gott schüttelt sich. Dem ist Er heute nicht gewachsen. Aber gerade als Er sich zum Gehen wendet, entdeckt Er neben einer Bude eine Frau, die ihm zuwinkt. Sie hält einen Stapel Zeitungen im Arm. Gott erwartet, gleich irgendwo das »Gott ist unter uns«-Plakat zu entdecken. Beim Näherkommen stellt Er jedoch fest, dass es sich um eine andere Art von Zeitschrift handelt. »Mensch, Alter, dich habe ich ja seit Tagen nicht gesehen!«, ruft die Frau freundlich, und Gott wirft einen verstohlenen Blick auf das Namensschild an ihrer Jacke, ehe Er sie begrüßt. Das Schild weist sie aus als Maria Müller, autorisierte Verkäuferin einer Obdachlosenzeitung. Gott ist erstaunt – wie eine Kollegin von Erwin sieht sie gar nicht aus. »Na, hast du die neue Ausgabe schon gelesen, Alter?« Gott schüttelt bedauernd den Kopf: »Ich würde dir gerne eine abkaufen, aber ich habe leider grade kein Geld!« Maria lacht laut auf. »Mensch, Erwin, wie bist du denn heute drauf? Das wäre ja das erste Mal, dass du meine Zeitung kaufen würdest!« Gott beißt sich auf Erwins Lippen. Mist, Er muss vorsichtiger sein. Ob sie wohl etwas bemerkt hat? Aber die Frau streckt ihm ein Exemplar entgegen und nickt ihm aufmunternd zu. »Hier, nimm mal eine, aber gib sie mir nachher zurück, klar?« Gott bedankt sich und lässt sich etwas abseits auf einer Bank nieder. Interessiert blättert Er die Zeitung durch. Erwins Kollegen berichten von Missständen und Ungerechtigkeiten, die ihnen tagtäglich begegnen. Einiges davon hat Gott während seines kurzen Aufenthalts als Erwin auf der Erde bereits am eigenen Leib erfahren.

    Er ist wirklich froh, dass Er das nicht dauerhaft erdulden muss. Sobald ich den Bericht fertig habe, werde ich wieder gemütlich an meinem Schreibtisch sitzen und – verflucht, der Bericht! Gott schlägt sich eine Hand vor die Stirn. Er hat sich schon wieder ablenken lassen. Wenn Er wenigstens die Zeitung mitnehmen könnte … Er geht zurück zu der Frau, die den Vorübergehenden ihr Blatt anbietet. »Maria, ich würde das Heft wirklich gerne behalten. Kann ich dir das Geld nicht morgen geben?« Maria lacht ihn an und zeigt ihm dabei den Vogel. »Alter, du weißt doch, dass ich nix verleihe. Ist mir nicht besonders gut bekommen bisher, was?« Aber sie sagt das freundlich. Gott schöpft Hoffnung. Vielleicht kann sie ihm ja weiterhelfen? »Weißt du, ich mache mir grade ziemlich viel Gedanken darüber, was in der Welt so passiert«, sagt Er und lässt seinen Blick über den Weihnachtsmarkttrubel schweifen. »Vielleicht kannst du mir ja mal deine Meinung dazu sagen. Also – was meinst du: Was sollte man ändern auf der Erde?« Maria macht große Kulleraugen, dann prustet sie los. »Ey sag mal, wirst du jetzt so ’n Philosoph, oder was? Hast du zu viel Glühwein abgekriegt, oder schlägt dir Weihnachten aufs Hirn?« Gott wartet, bis Marias Lachanfall abgeklungen ist. Mit ein dringlicher Stimme versucht Er es noch einmal: »Nein, jetzt mal im Ernst. Hast du nie solche Gedanken?« Er sieht die Frau erwartungsvoll an. Die schüttelt, noch immer lachend, den Kopf. Dann beginnt sie, ihre Zeitungen einzupacken. »Hör zu, Alter, mich interessiert im Moment nur eines, und zwar, wo ich jetzt ein leckeres, warmes Süppchen bekomme. Und das Tolle ist, ich weiß sogar schon die Antwort. Also was ist, kommst du mit?«



13

    A n einem Biertisch sitzt Gott vor einem Teller dampfend heißer Linsensuppe. Der Duft steigt ihm in die Nase und lässt Erwins Magen in Vorfreude grummeln. Sogar ein paar Wurststückchen treiben in der Suppe herum. Gott ist entzückt. Er bricht das Brötchen, das zusammen mit der Mahlzeit ausgeteilt

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