Dead - Ein Alex-Cross-Roman
Prolog
Dir zu Ehren
1
Bei der förmlichen Urteilsverkündung in Alexandria, Virginia, wegen elffachen Mordes bekam der ehemalige FBI-Agent und Serienmörder Kyle Craig, genannt das Superhirn, von der US-Bezirksrichterin Nina Wolff eine herablassende Gardinenpredigt zu hören. So fasste er zumindest die richterliche Schelte auf: als eindeutige persönliche Kränkung, die er sich sehr zu Herzen nahm.
»Mr Craig, Sie sind in jeder nur denkbaren Hinsicht das bösartigste menschliche Wesen, das mir in diesem Gerichtssaal je gegenübergestanden hat, und ich habe schon etliche abscheuliche Charaktere …«
Craig unterbrach sie. »Ganz herzlichen Dank, Frau Richterin. Ich fühle mich von Ihren freundlichen und, dessen bin ich mir gewiss, wohl bedachten Worten geehrt. Wer wäre nicht erfreut, der Beste zu sein? Fahren Sie fort, bitte. Das ist Musik in meinen Ohren.«
Die Richterin Wolff nickte bedächtig, dann fuhr sie fort, als hätte Craig kein Wort gesagt.
»Als Wiedergutmachung für die unaussprechlichen Morde und die vielen Misshandlungen, die Sie begangen haben, verurteile ich Sie hiermit zum Tode. Die Zeit bis zum Vollzug der Strafe werden Sie in einem Hochsicherheitsgefängnis zubringen. Dort müssen Sie auf sämtliche normalen zwischenmenschlichen Kontakte verzichten. Sie werden niemals wieder die Sonne sehen. Schafft ihn mir aus den Augen!«
»Sehr dramatisch«, rief Kyle Craig der Richterin Wolff zu, während er aus dem Gerichtssaal geführt wurde. »Aber Sie irren sich gewaltig. Sie haben sich soeben selbst zum Tod verurteilt.
Ich werde die Sonne sehr wohl wieder sehen, und dann werde ich Sie sehen, Frau Richterin Wolff. Darauf können Sie Gift nehmen. Ich werde auch Alex Cross wieder sehen. Mit Sicherheit werde ich Alex Cross wieder sehen. Und seine reizende Familie. Ich gebe Ihnen mein Wort, mein feierliches Versprechen vor dieser versammelten Zeugenschar, diesem jämmerlichen Publikum aus sensationslüsternen Gaffern und Pressehyänen und allen anderen, die mich heute mit ihrer Anwesenheit beehren. Kyle Craig wird euch keine Ruhe lassen .«
Im Auditorium, inmitten der »sensationslüsternen Gaffer und Pressehyänen«, saß auch Alex Cross. Er hörte die leeren Drohungen seines einstigen Freundes. Er konnte nur hoffen, dass das Hochsicherheitsgefängnis in Florence wirklich so sicher war, wie es angeblich sein sollte.
2
Auf den Tag genau vier Jahre später saß, oder besser ausgedrückt, schmorte Kyle Craig noch immer im Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado, rund hundertsechzig Kilometer von Denver entfernt. Während der ganzen Zeit hatte er die Sonne kein einziges Mal gesehen. Er hatte so gut wie keine menschlichen Kontakte gehabt. Seine Wut wurde größer, trieb Blüten, und das war, wenn man es sich recht überlegte, eine fürchterliche Vorstellung.
Zu seinen Mitgefangenen gehörten unter anderem der »Unabomber« Ted Kaczynski, der Drahtzieher des Bombenattentats von Oklahoma City, Terry Nichols, sowie die Al-Kaida-Terroristen Richard Reid und Zacarias Moussaoui. Auch sie hatten in letzter Zeit nicht viel Sonnencreme gebraucht. Die Gefangenen waren dreiundzwanzig Stunden am Tag in schalldichten, zwei mal vier Meter großen Betonzellen eingesperrt, vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten, sieht man von ihren Rechtsanwälten und den Wachen ab. Irgendjemand hatte die Erfahrung der Einsamkeit im Hochsicherheitsgefängnis von Florence einmal als ein »tagtägliches Sterben« bezeichnet.
Sogar Kyle musste zugeben, dass die Flucht aus Florence eine beängstigende Herausforderung und vielleicht sogar unmöglich war. Um die Wahrheit zu sagen: Noch nie war sie einem Insassen geglückt, noch nicht einmal ansatzweise. Und doch konnte man hoffen, man konnte träumen, man konnte tüfteln und gelegentlich ein wenig die Fantasie bemühen. Man konnte auf jeden Fall eine kleine Revanche planen .
Sein Fall war derzeit im Revisionsverfahren, und er bekam einmal in der Woche Besuch von Mason Wainwright, seinem
Anwalt aus Denver. Auch heute kam er wieder pünktlich um 16 Uhr, so wie jedes Mal.
Mason Wainwright trug einen langen, silbergrauen Pferdeschwanz, abgewetzte schwarze Cowboystiefel und einen keck in den Nacken geschobenen Cowboyhut, dazu eine Wildlederjacke, einen Gürtel aus Schlangenleder sowie eine große Hornbrille, die ihn wie einen gebildeten Country-and-Western-Sänger oder aber wie einen College-Professor mit einer Schwäche für Country and Western aussehen ließ, je nachdem. Für
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