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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasna Mittler
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bleibt am Waschbecken stehen und betrachtet Erwins Gesicht im Spiegel. Die Bartstoppeln sind seit gestern ein gutes Stück gewachsen. Er wäscht sich prustend mit kaltem Wasser, trinkt etliche Schlucke, was nach dem Glühwein des letzten Abends eine Wohltat ist, und fühlt sich danach viel besser. Nur der schon wieder aufkeimende Hunger stört ihn. Wie viel Essen braucht denn so ein Mensch bloß den ganzen Tag über? Und wie bringt man überhaupt irgendetwas zustande, wenn man sich die ganze Zeit um die Beschaffung von Nahrung kümmern muss? Von dem Geld ist nichts übrig geblieben. Gott ärgert sich, dass Er so verschwenderisch war. Aber weg ist weg, und jetzt muss Er sehen, wie Er zurechtkommt.
    Neben dem Plastikstuhl der Klofrau steht ein Tischchen, auf dem ein weihnachtliches Gesteck arrangiert ist, mit Tannenzweigen, silbernen Nüssen und einem der geflügelten Kinder. Auf dem weißen Teller vor dem Weihnachtsschmuck liegen diverse Münzen. Gott starrt das Geld an. Ich könnte es einfach nehmen, denkt Er und wirft einen Blick zur Damentoilette. Die Tür ist noch immer geschlossen. Gott fühlt sich hin und her gerissen. Einerseits weiß Er, dass die Klofrau harte Arbeit für ihr Geld leistet und Er nicht das Recht hat, sie zu bestehlen. Andererseits braucht Er dringend ein paar Münzen, um Erwins leeren Magen zu füllen, und zwar so schnell wie möglich. Schon bei dem Gedanken an etwas Essbares läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Kurz entschlossen nimmt Er das Geld und steckt es in die Tasche.
    Als kleinen Ausgleich für diese Ungerechtigkeit macht Er, dass sich die Rückenschmerzen und das Krampfaderleiden der Klofrau schlagartig bessern, und verlässt eilig das Gebäude.



10

    G ott schlurft durch die leere Fußgängerzone. Die Geschäfte sind noch geschlossen, eine Kehrmaschine zieht laut dröhnend ihre Runden. Vor einer Bäckerei reiht Er sich in die Schlange der Wartenden ein. Süßliche Weihnachtsmusik klingt auf die Straße hinaus. Gott betrachtet die Auslage in der gläsernen Verkaufstheke und rechnet im Geiste mehrmals durch, welche dieser Köstlichkeiten Er sich von dem Geld der Klofrau leisten kann. Ein belegtes Brötchen? Und was drauf?? Oder einen Milchkaffee, dafür aber nur ein trockenes Brötchen? Oder eins von diesen Zellophanpäckchen mit, wie heißt das, »Spekulatius«? Das Wasser läuft ihm in Erwins Mund zusammen, der Magen knurrt, und Gott kann sich noch immer nicht entscheiden. Als Er an der Reihe ist, lächelt Er die Verkäuferin verlegen an: »Könnten Sie mir vielleicht helfen? Ich habe drei Euro vierundsiebzig und möchte was Leckeres zum Frühstück. Was soll ich da bloß nehmen?« Die Frau stutzt, doch dann schmunzelt sie. Sie deutet auf diverse Gebäckstücke, erklärt, wonach sie schmecken, und lässt sich durch die drängenden Zwischenrufe der wartenden Kundschaft nicht aus dem Konzept bringen. Wenig später steht Gott wieder auf der Straße und hält eine Papiertüte mit einem Croissant und einem Käsebrötchen in der einen sowie einen dampfenden Pappbecher mit Kaffee in der anderen Hand. Erleichtert lässt Er sich auf der nächstbesten Bank nieder und genießt jeden Bissen.
    Inzwischen ist Leben in die Fußgängerzone gekommen. Gott tritt auf die gläsernen Türen eines Kaufhauses zu, die sich wie von Zauberhand vor ihm teilen und zur Seite gleiten, sodass ihm der Weg ins Innere offen steht. Das gefällt Gott so sehr, dass Er es gleich noch mal versucht. Die Tür lässt ihn hinaus, die Tür lässt ihn hinein. Wundervoll!

    Schließlich betritt Er die Einkaufshalle. Drinnen ist alles hell erleuchtet und festlich geschmückt. Gedämpfte Musik erklingt, und warme Heizungsluft lullt ihn ein. Hübsche Frauen eilen umher, sie füllen Regale, rücken Kuscheltiere zurecht und polieren Glasvitrinen. Vor Wohlgefühl schwebt Gott beinahe ein Stück über dem glänzenden Boden. Er streicht mit den Händen über samtige Kissen, befühlt seidige Stoffe und schnuppert süße Parfümdüfte, die ihm nicht mehr aus der Nase gehen. Das Paradies auf Erden! Welche Ansammlung von Herrlichkeiten!, jubelt Er und gratuliert sich selbst, dass Er den Weg in diesen Kauftempel gefunden hat. Da taucht wie aus dem Nichts ein abgerissen aussehender Kerl vor ihm auf. Gott erschrickt und prallt vor dem Anblick zurück, doch mit Schaudern wird ihm klar, dass Er vor einer Spiegelwand steht. Er mustert Erwins zerzauste Haare, seine Bartstoppeln und den abgewetzten Anzug, die so gar nicht in das prachtvolle

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