Der heimliche Rebell
sich und hob das Paar Halbschuhe, die er g e stern getragen hatte, vom Boden auf. Sie waren schlam m verkrustet. Und auf beiden fanden sich zudem dicke Tropfen eingetrockneter roter Farbe.
„Bestimmt von der Kunstabteilung“, sagte Janet. Sie hatte im ersten Jahr nach der Gründung der Agentur als Allens Empfangsdame und in der Registratur gearbeitet, und daher kannte sie den Bürokomplex. „Wozu hast du denn die rote Farbe gebraucht?“
Er antwortete nicht. Er untersuchte immer noch die Sch u he.
„Und der Schlamm“, sagte Janet. „Und schau mal hier!“ Sie beugte sich vor und zupfte etwas angetrocknetes Gras von der Sohle eines der Schuhe. „Wo hast du denn auf Ho k kaido Gras gefunden? Da wächst doch nichts in diesen Ru i nen… Hokkaido ist radioaktiv verseucht, nicht wahr?“
„Ja“, gab er zu. Und ob es das war. Die Insel war wä h rend des Krieges restlos gesättigt worden, bombardiert und überflutet und malträtiert und überschwemmt mit allen nur vorstellbaren Arten hochgradig toxischer und todbringender Stoffe. Eine Moralische Restauration war hier sinnlos, ganz zu schweigen von materiellen, flächendeckenden Wiede r aufbaumaßnahmen. Hokkaido war auch jetzt noch so steril und tot wie 1972, dem Jahr, in dem der Krieg zu Ende ging.
„Es ist einheimisches Gras“, sagte Janet, nachdem sie es befühlt hatte. „Ich kann den Unterschied spüren.“ Sie hatte den größten Teil ihres Lebens draußen auf den Kolonialpl a neten verbracht. „Die Oberflächenstruktur ist glatt. Es ist nicht importiert worden… es muß hier auf der Erde gewac h sen sein.“
Irritiert fragte er: „Wo hier auf der Erde?“
„Im Park“, sagte Janet. „Das ist der einzige Ort, wo Gras wächst. Der Rest sind alles nur Apartments und Büros. Du mußt gestern abend dort gewesen sein.“
Draußen vor dem Fenster des Apartments schimmerte der Turm der Heiligen MoRes in der Morgensonne. Unterhalb davon war der Park. Der Park und der Turm beinhalteten den Mittelpunkt der MoRes, ihr omphalos. Dort, inmitten der Wiesen und Blumen und Büsche, stand auch die Statue von Major Streiter. Es war die offizielle Statue, noch zu se i nen Lebzeiten modelliert. Die Statue stand nun schon seit einhundertvierundzwanzig Jahren dort.
„Ich bin durch den Park gegangen“, gab er zu. Er hatte aufgehört zu essen; seine ,Eier’ wurden auf dem Teller kalt.
„Aber die Farbe“, sagte Janet. In ihrer Stimme schwang wieder jene vage, gequälte Ängstlichkeit mit, mit der sie jeder Krise entgegentrat, das Gefühl völliger Hilflosigkeit angesichts bevorstehenden Unheils, das stets ihre Fähigkeit zum Handeln zu lähmen schien. „Du hast doch nichts U n rechtes getan, oder?“ Offensichtlich dachte sie an den Mie t kontrakt.
Allen rieb sich die Stirn und erhob sich. „Es ist halb acht. Ich muß zur Arbeit.“
Janet stand gleichfalls auf. „Aber du hast ja gar nicht zu Ende gegessen.“ Sonst aß er seinen Teller immer leer. „Du bist doch nicht etwa krank, oder?“
„Ich“, sagte er, „krank?“ Er lachte, küßte sie auf den Mund und griff dann nach seinem Mantel. „Wann war ich zuletzt krank?“
„Nie“, murmelte sie. Mit besorgtem Gesichtsausdruck verfolgte sie jede seiner Bewegungen. „Bei dir ist nie irgend etwas nicht in Ordnung.“
Im Parterre der Wohneinheit drängte sich eine dichte Traube von Geschäftsleuten um den Tisch des Blockwarts. Die Ro u tineüberprüfung war in vollem Gange, und Allen gesellte sich zu der Gruppe. Der Morgen duftete nach Ozon; ein sa u berer Geruch, der Allen dabei half, einen klaren Kopf zu bekommen. Und er stellte seinen grundsätzlichen Optimi s mus wieder her.
Das Zentrale Bürgerkomitee unterhielt einen weiblichen Funktionär in jeder Wohneinheit, und Mrs. Birmingham war typisch dafür: eine mollige, blühende Frau Mitte Fünfzig, die ein geblümtes Rüschenkleid trug und ihre Berichte stets mit einem überaus ehrfurchtsheischenden Füllfederhalter schrieb. Blockwart war eine hochangesehene Position, und Mrs. Birmingham hatte diesen Posten seit vielen Jahren i n ne.
„Guten Morgen, Mr. Purcell.“ Sie strahlte ihn an, als er an die Reihe kam.
„Tag, Mrs. Birmingham.“ Er tippte grüßend an den Hut, weil Blockwarte großen Wert auf solche kleine Höflichke i ten legten. „Scheint ein schöner Tag zu werden, wenn’s sich nicht doch noch bewölkt.“
„Regen für die Ernte“, sagte Mrs. Birmingham, was ein Scherz sein sollte. Praktisch alle Nahrungsmittel und sonst i
Weitere Kostenlose Bücher