Der Henker von Paris
furchtbare Familie. Nach und nach lernte er sie alle kennen, die Tanten und Onkel und all seine Cousins. Grossmutter Dubut holte sie alle nach Paris. Gemeinsam übten sie Druck auf Charles aus und glorifizierten das Amt des Henkers. Dass Charles Arzt werden wollte, empfanden sie als Affront gegen die Familie. Charles hasste sie alle. Er hatte sich diese Familie nicht ausgesucht, aber er hatte nur sie, überlegte er. Ohne Familie war er wie ein Deserteurin der Neuen Welt, der sich in den Wäldern des hohen Nordens oder irgendwo am Ufer der Hudson Bay in einem Wigwam verkroch. Allein unter fremden Stämmen mit fremden Sitten. Auf sich allein gestellt. Die Familie hingegen war eine Burg, aber auch ein dunkles Verlies. Licht brachten einzig die Musik, das Klavier und die Melodien, die er diesem Instrument entlocken konnte. Seine Schwester Dominique hatte ihm die Welt der Klänge eröffnet und unterrichtete ihn am Klavier. Sie sassen oft nebeneinander auf der Holzbank und entlockten dem Instrument zärtliche, warme Töne. Manchmal schien es, als würden sie über die Tasten miteinander sprechen. Sie sagten sich Dinge, die sie mit Worten nicht hätten ausdrücken können. Die Musik wurde Charles’ ständiger Begleiter. Ganz gleich, wo er sich aufhielt, er hörte stets die schönen Melodien und fühlte sich dabei seiner Lieblingsschwester Dominique sehr nahe.
Als die Zeit gekommen war, bat Charles seinen Vater, ihn auf eine Schule zu schicken, um Medizin zu studieren. Obwohl eine Privatschule nicht ganz billig war, willigte Jean-Baptiste sofort ein, weil er sich dadurch mehr Frieden im Haus erhoffte, aber auch weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert hatte, der ihm seit Joséphines Tod fremd geworden war.
Grossmutter Dubut hingegen war von der Idee gar nicht begeistert. Sie hielt dies für pure Geldverschwendung. Vielleicht fürchtete sie aber auch, dass Charles eines Tages zurückkam und über eine Bildung verfügte, die sie nie gehabt hatte. Sie hatte zwar die Meinungshoheit über jeglichesWissen, aber dieses Wissen war so dürftig, dass sie sich nur mit Härte, Druck und Terror behaupten konnte. Sie hielt Wissen generell für unnütz und pflegte zu sagen, dass ein Baum schon zu Lebzeiten Jesu ein Baum gewesen sei. Was gebe es da an Neuem zu entdecken? Für sie gab es nur körperliche Arbeit, Disziplin, Pflichterfüllung, und jede Gefühlsäusserung geisselte sie als Schwäche.
Jean-Baptiste setzte sich durch und beschloss, Charles auf die Klosterschule in Rouen zu schicken. Sie hatte ihren Ursprung im Collège de médecine, das bereits im Jahre 1605 gegründet worden war. Hier wurden die Ärzte der Zukunft ausgebildet.
3
Charles mochte Rouen auf Anhieb. Es war das Tor zu fremden Welten, zu anderen Kontinenten, zu neuem Wissen. Die Patres waren entspannter als die zornigen Gottesmänner, die von den Kanzeln der Pariser Kirchen auf ihre verarmte und eingeschüchterte Kundschaft hinunterschrien. In Rouen hörte man sich gegenseitig zu, man tauschte Argumente aus und schätzte die Gespräche, auch wenn die Meinungen auseinandergingen. Hier hatte es keinen Platz für eine wie Grossmutter Dubut, und das genoss Charles jeden Morgen. Er schlief zusammen mit sechzig anderen Klosterschülern in einem grossen Saal. Frühmorgens wurden sie von einer Glocke geweckt. Schweigend hatten sie den Hof aufzusuchen, wo sie sich am Brunnen wuschen. Danach versammelten sie sich in der Kapelle zum Morgengebet und suchten anschliessend gemeinsam den Speisesaal auf. Alles war streng geregelt, und jede Abweichung wurde geahndet. Aber selbst Strafen wurden nicht zornig, sondern freundlich ausgesprochen. Charles störte sich nicht an seinem neuen Tagesrhythmus. Er wollte lernen. Er wollte wissen. Er wollte den menschlichen Körper verstehen.
Und dann gab es noch etwas in Rouen, was sofort Charles’ Leidenschaft weckte. Im Speisesaal stand ein Klavier, das die Schüler nach Einnahme der Abendmahlzeit benutzen durften. Aber niemand machte davon Gebrauch, und Charles getraute sich nicht. Eines Abends jedoch, als alle ihre Mahlzeit beendet hatten und ein Pater mit der Glocke das Zeichen gab, den Tisch verlassen zu dürfen,blieb Charles sitzen. Er liess das Klavier nicht aus den Augen. Ein schmächtiger Junge setzte sich daran und begann sanft und einfühlsam in die Tasten zu greifen. Doch kaum war der Saal leer, haute der Junge immer wilder in die
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