Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
Vom Netzwerk:
Tasten und stampfte wie von Sinnen auf den Pedalen herum. Charles stand auf und ging zu ihm hinüber. Neben dem Klavier blieb er stehen und beobachtete aufmerksam die Spielweise des Mitschülers. Dieser hatte Charles längst bemerkt. Er genoss die Aufmerksamkeit, die er ihm entgegenbrachte. Plötzlich schrie er, ohne aufzuschauen: »Setz dich schon, ich weiss, dass du spielen kannst. Ich bin Antoine.«
    Charles liess sich nicht zweimal bitten. Antoine rutschte auf der Klavierbank zur Seite. Charles setzte sich und begann gleich zu spielen. Antoine schnitt eine Grimasse und intensivierte sein impulsives Spiel. Nun spielten beide drauflos, konzentriert und mit grosser Ernsthaftigkeit. Ab und zu warfen sie sich einen Blick zu und lachten lauthals. Dann beschleunigten sie erneut ihr Spiel. Es war grossartig.
    »Wo hast du gelernt?«, fragte Antoine.
    »Meine Schwester Dominique hat mir alles beigebracht.«
    »Hat sie grosse Titten?«
    Sie spielten noch über eine Stunde, bis schliesslich im Flur der Gong ertönte, der die Schüler aufforderte, die Schlafräume aufzusuchen. Antoine sprang von der Bank auf. »Wie heisst du?«
    »Charles.«
    »Hast du auch einen Nachnamen?«
    »Einfach Charles.«
    »Nun gut, Charles, lass uns morgen Abend wieder spielen. Oder gehst du lieber in die Kapelle beten?«
    »Nein, wir spielen.«
    »Gut«, sagte Antoine und grinste, »der liebe Gott hat unser ewiges Gesabber eh satt. Ich bin übrigens Antoine Quentin Fouquier de Tinville. Wie war schon wieder dein Nachname?«
    Charles war irritiert. Er war diese Art von Humor nicht gewohnt.
    Über die Musik fanden die beiden zueinander. Im Gegensatz zu Charles interessierte sich Antoine wenig für Anatomie und Pharmazie. Ihn interessierten die Musik, das Geld, das ihm seine Eltern jeden Monat schickten, und die Werbeseiten einer Pariser Druckerei, die jeden Monat Neuheiten aus den Pariser Gemeinschaftswarenhäusern publizierte. Das waren überdachte Märkte, in denen weit über hundert kleine Händler ihre Waren feilboten. Darunter waren viele unnütze Dinge, aber Antoine faszinierte jede neue Maschine, die über eine ausgeklügelte Mechanik verfügte und einen Nutzen hatte. Er konnte unendlich lange darüber referieren, denn er hörte sich gern reden. Und da er an Charles einen Narren gefressen hatte und dieser ein geduldiger, stiller Zuhörer war, liess er seinen neuen Freund nicht mehr aus den Augen. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt. Die beiden waren ein seltsames Duo. Charles überragte alle seine Mitschüler um einen Kopf. Aus der Schülerschar stach er heraus wie der Koloss von Rhodos. Trotz seiner zurückhaltenden Art verkörperte er eine enorme physische Stärke und Präsenz. Das schien dem eher kleingewachsenen und schmächtigen Antoine zuimponieren. An der Seite von Charles wagte es Antoine, sich über seine Mitschüler zu mokieren. Charles entging das in keiner Weise, und es gefiel ihm überhaupt nicht. Aber er sah darüber hinweg, denn am Abend würden sie wieder gemeinsam am Klavier sitzen. Für eine Freundschaft ist es nicht zwingend notwendig, dass man alle Interessen und Meinungen teilt, dachte er. Eine Leidenschaft genügt. Bei ihnen war es nun mal die Musik, das Klavier.
    »Ich mag es nicht, wenn du dich über die Armut einiger deiner Mitschüler lustig machst«, sagte Charles eines Abends nach dem Klavierspiel.
    »Ach je«, erwiderte Antoine und lachte, »ich mache doch nur Spass.«
    »Niemand kann etwas dafür, dass er arm geboren wurde. Den Eltern dieser Schüler gebührt grosses Lob, dass sie sich einschränken, um ihren Söhnen eine Schule bezahlen zu können.«
    »Mir kommen gleich die Tränen«, seufzte Antoine und spielte den Verzweifelten. »Sie würden ihre Söhne besser nicht auf solche Schulen schicken, denn später fehlt ihnen eh das Geld, um ein Amt zu kaufen. Was hat ihnen denn die Schule gebracht ausser Entbehrungen?«
    »Es ist kein Verdienst, reich geboren worden zu sein.«
    »Es ist doch ein Unterschied, ob ich Antoine Quentin Fouquier de Tinville heisse oder Charles … wie war schon wieder dein Nachname?«
    »Ich bin der Sohn des Chevaliers Sanson de Longval«, entgegnete Charles und bereute gleich, dies ausgesprochen zu haben. »Mein Vater ist Arzt«, log er obendrein.
    »Sanson de Longval? Noch nie gehört.« Antoine machte ein Gesicht, als hätte er soeben etwas Saures heruntergewürgt. »Aber dein Vater schickt dir nie Geld. Hat er keins, oder verhurt er es?«
    »Ich habe genug«, sagte Charles, »ich

Weitere Kostenlose Bücher