Der Henker von Paris
bin hier, um zu lernen.«
»Du scheinst ein Herz für arme Leute zu haben, Charles. Weil deine Familie nichts hat? Ausser Hunger. Und den grossen Titten deiner Schwester.«
»Wir sind eine Familie von Ärzten. Unsere Aufgabe ist es, das Leid zu lindern. Wir lieben die Menschen, egal ob sie arm oder reich sind.«
»Ich mag nur dich hier, Charles, ich mag deine stille Art. Ich rede wie ein Wasserfall, und du hörst mir zu. Ich beleidige dich ab und zu, und du schweigst. Manchmal frage ich mich, was ich dir antun muss, damit du aufbegehrst. Platzt dir denn nie der Kragen?«
Charles schwieg.
»Das meine ich gerade. Nichts bringt dich aus der Fassung. Manchmal reizt es mich, dir ins Gesicht zu schlagen, einfach um zu sehen, wie du reagierst. Aber meine Arme sind wohl zu kurz.« Antoine lachte vergnügt. »Und ich bin kein mutiger Mensch. Ich bin eher ängstlich. Ich habe zwar ein grosses Mundwerk, aber tief in meinem Innern mach ich mir in die Hosen. Kannst du das verstehen?«
Charles nickte.
Antoine klopfte ihm auf die Schulter. »Aber erzähl es nicht weiter. Ich habe dir eben ein Geheimnis anvertraut.«
Charles nickte erneut.
»Am Samstagabend will ich in der Taverne zum GoldenenFass essen gehen. Es gibt frisches Wild. Leistest du mir Gesellschaft? Ich lade dich ein.«
Charles zögerte.
»Bitte, Charles, Geld habe ich genug, aber ich brauche einen Freund.« Antoine gab ihm erneut einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Antoine Quentin Fouquier de Tinville bittet zu Tisch.«
Jetzt musste auch Charles schmunzeln.
Von da an beschenkte Antoine seinen neuen Freund regelmässig und äusserst grosszügig. Er kaufte Charles sogar medizinische Fachbücher, die nicht ganz billig waren. »Für meinen zukünftigen Hausarzt«, pflegte er zu sagen. Einen solchen würde er brauchen, denn er hatte immer irgendwelche Beschwerden: Nadelstiche im Oberschenkel, Atemnot, zu viel Luft in den Gedärmen, ein Pfeifen im Ohr, diffuse Rückenschmerzen oder ganz einfach Albträume. Charles wusste auf fast alle Fragen eine Antwort. So wurde Antoine immer abhängiger von ihm. Und Charles vertiefte sich dank Antoine in jedes Organ. Deshalb festigte nebst der Musik auch Antoines Hypochondrie die freundschaftlichen Bande zwischen den beiden ungleichen jungen Männern. Bald hatte Charles eine ganze Bibliothek über den menschlichen Körper beisammen. Antoine verlangte noch mehr Geld von seiner Mutter. Er gab es mit beiden Händen aus, als handelte es sich dabei um wertlose Papierschnitzel. In der Schule nützte ihm das viele Geld nichts. Er war ein miserabler Schüler. Ohne Charles’ Hilfe hätte er nicht einmal das erste Jahr überstanden. Er wusste es, und manchmal kränkte ihn das so sehr, dass er das Bedürfnis hatte, Charles mit Boshaftigkeiten zu verletzen. Doch Charles nahm auchdas einfach so hin. Er hatte nie gelernt, sich aufzubäumen. Widerstand war nicht Teil seines Repertoires. Er war es gewohnt, im Stillen zu leiden und das Schicksal mit all seinen täglichen Widrigkeiten zu ertragen. Charles konzentrierte sich auf die Schule, er war ein guter Schüler. Doch seine Leistungen spornten Antoine nicht an. Stattdessen gedieh der Neid in dessen Brust wie ein bösartiges Geschwür.
»Du bist nicht für die Medizin geschaffen«, sagte Charles eines Tages, als sie zusammen den Blutkreislauf studierten. »Ich will ganz offen sein, Antoine, du liebst die Menschen zu wenig. Du liebst nur dich selbst, und das ist für einen Arzt zu wenig.«
»Das tut richtig weh«, röchelte Antoine mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Was empfiehlst du mir denn?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Charles, als sie sich am Abend wieder ans Klavier setzten. »Du musst dir überlegen, was du besonders gut kannst. Was kannst du, was andere nicht oder nicht so gut können?«
»Reden, den Leuten die Sätze im Mund verdrehen, spotten. Soll ich Schauspieler werden?« Antoine haute in die Tasten und stampfte auf den Pedalen herum. »Suizid wäre auch eine Lösung. Oder ich suche mir in Paris ein hübsches Bordell und warte dort mein Erbe ab. Meine Mutter schrieb mir kürzlich, mein alter Herr huste Blut. Sie wollte, dass ich mit dem Arzt rede. Soll sie ihn doch selber fragen, wie lange es unsere Geldbörse noch macht!«
»Anwalt«, sagte Charles plötzlich, »du solltest Anwalt werden. Du könntest sowohl Mörder als auch Opfer verteidigen. Mit der gleichen Akribie. Denn dich interessiert nur der Sieg. Nicht die Gerechtigkeit.«
Antoine
Weitere Kostenlose Bücher