Der Herr der Ringe
bleiben und die Morgendämmerung abzuwarten: Es war sinnlos, bei Nacht weiterkommen zu wollen. Sie schlugen kein Lager auf und zündeten kein Feuer an, sondern blieben zusammengekauert in den Booten, die dicht aneinander vertäut waren.
»Gepriesen seien Galadriels Bogen und Hand und Auge von Legolas!«, sagte Gimli, als er an einer lembas- Waffel knabberte. »Das war ein mächtiger Schuss im Dunkeln, mein Freund!«
»Wer kann sagen, was er traf?«, fragte Legolas.
»Ich kann es nicht«, sagte Gimli. »Aber ich bin froh, dass der Schatten nicht näher kam. Er gefiel mir ganz und gar nicht. Zu sehr erinnerte er mich an den Schatten von Moria – den Schatten des Balrog«, flüsterte er.
»Es war kein Balrog«, sagte Frodo, der immer noch von dem Schauer geschüttelt wurde, der ihn überkommen hatte. »Es war etwas Kälteres. Ich glaube, es war …« Dann hielt er inne und schwieg.
»Was glaubst du?«, fragte Boromir gespannt, beugte sich von seinem Boot aus vor und versuchte, einen Blick auf Frodos Gesicht zu werfen.
»Ich glaube – nein, ich will es nicht sagen«, antwortete Frodo. »Was immer es war, sein Sturz hat unsere Feinde in Schrecken versetzt.«
»So scheint es«, sagte Aragorn. »Doch wo sie sind und wie viele es sind und was sie als Nächstes tun werden, das wissen wir nicht. Heute Nacht müssen wir alle ohne Schlaf auskommen! Jetzt verbirgt uns die Dunkelheit. Aber was der Tag bringen wird, wer kann es sagen? Habt eure Waffen griffbereit!«
Sam trommelte auf das Heft seines Schwertes, als ob er mit den Fingern zählte, und schaute zum Himmel hinauf. »Es ist sehr seltsam«, murmelte er.»Der Mond ist derselbe im Auenland und in Wilderland, oder sollte es wenigstens sein. Aber entweder ist er aus dem Gang geraten, oder ich kann nicht mehr richtig rechnen. Du wirst dich erinnern, Herr Frodo, der Mond nahm ab, als wir auf dem Flett in dem Baum da oben lagen: eine Woche nach dem Vollmond, schätze ich. Und gestern Abend sind wir eine Woche unterwegs gewesen, und jetzt geht ein Neumond auf, dünn wie ein Fingernagelmond, als ob wir in dem Elbenland überhaupt keine Zeit verbracht hätten.
An drei Nächte erinnere ich mich bestimmt, und ich glaube mich auch noch an verschiedene andere zu erinnern, aber ich möchte einen Eid ablegen, dass es bestimmt kein ganzer Monat war. Man sollte denken, dass Zeit dort überhaupt nicht zählt!«
»Und vielleicht war das wirklich so«, sagte Frodo. »Es mag sein, dass wir in jenem Land in einer Zeit waren, die anderswo längst vergangen ist. Erst als uns der Silberlauf zum Anduin brachte, kehrten wir, glaube ich, in die Zeit zurück, die durch sterbliche Lande zum Großen Meer fließt. Und ich erinnere mich überhaupt an keinen Mond in Caras Galadhon, weder an zunehmenden noch an abnehmenden, sondern nur an Sterne bei Nacht und Sonne bei Tag.«
Legolas bewegte sich in seinem Boot. »Nein«, sagte er, »die Zeit verweilt niemals. Aber Wandel und Wachstum sind nicht bei allen Dingen und an allen Orten gleich. Für die Elben bewegt sich die Welt, und sie bewegt sich sehr rasch, und dennoch sehr langsam. Rasch, weil die Elben selbst sich wenig verändern, während alles andere dahineilt: Es ist ein Kummer für sie. Langsam, weil sie die verstreichenden Jahre nicht zählen, nicht für sich selbst. Die vorübergehenden Jahreszeiten sind nur sich immer wiederholende Wellenschläge auf dem langen, langen Strom. Dennoch müssen unter der Sonne alle Dinge zuletzt vergehen.«
»Aber das Vergehen ist langsam in Lórien«, sagte Frodo. »Die Macht der Herrin ruht darauf. Reich sind die Stunden, wie kurz sie auch scheinen mögen, in Caras Galadhon, wo Galadriel den Elbenring trägt.«
»Das hätte nicht außerhalb von Lórien gesagt werden dürfen, nicht einmal zu mir«, sagte Aragorn. »Sprich nicht mehr davon! Aber so ist es, Sam: In jenem Land bist du aus der Zeitrechnung gekommen. Dort zieht die Zeit rasch vorbei, an uns wie an den Elben. Der alte Mond verging, ein neuer Mond nahm zu und wieder ab in der Welt draußen, während wir dort verweilten. Und gestern Abend kam wieder ein neuer Mond. Der Winter ist nahezu vorbei. Die Zeit geht einem Frühling mit wenig Hoffnung entgegen.«
Die Nacht blieb ruhig. Keine Stimme und kein Ruf drangen mehr über das Wasser. In den Booten zusammengekauert, spürten die Gefährten, dass sich das Wetter änderte. Die Luft wurde warm und sehr still unter den großen, feuchten Wolken, die vom Süden und den fernen Meeren
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