Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
war wohl noch nicht wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte. Wenn Braston zurückgekehrt war, waren es die anderen vielleicht auch? Kalte Gedanken erfüllten sie, Bilder vom Fälscher, der Diebin, Despirrow und Salarkis, die wieder die Welt heimsuchten.
Nachdem er seine Überraschung überwunden hatte, trat Harren auf Kor zu. »Bist du sicher? Wie lauten die Worte genau?«
Kor schien unter Harrens scharfem Blick zu schrumpfen. »Es soll bekanntgegeben werden«, sagte er, »dass heute Morgen König Braston von den Toten nach Althala zurückgekehrt ist, um wieder seinen Thron zu besteigen und sein Volk zu führen.«
Harren rieb sich heftig das Kinn und murmelte vor sich hin. Dann packte er Kor am Kragen seiner Robe. »Diese Nachricht – woher kam sie? Ganz bestimmt aus Althala?«
»Ja, Herr! Direkt aus der Burg.«
Langsam wandte sich Harren zu Yalenna um. Er wirkte beunruhigt. »Herrin«, sagte er, »gewiss verstehst du, warum ich so misstrauisch bin. Denn wenn es eine Falschmeldung ist, hat sie einen Hintergrund, den ich mir nicht vorzustellen vermag.«
»Glaub mir«, sagte Yalenna, »es ist keine Falschmeldung.«
»Hinaus mit dir, Kor«, sagte Harren und scheuchte den jungen Mann fort. Er kehrte zum Tisch zurück und setzte sich jetzt neben Arah, wenn auch auf einen viel kleineren Stuhl.
»Was kann es bedeuten?«, stellte Arah die Frage, auf die niemand die Antwort kannte.
Yalenna hörte sie kaum. »Was ist mit den anderen Wächtern?«, fragte sie. »Gibt es Nachrichten von ihnen?«
»Wie bitte?« Arah erbleichte. »Nein, wir haben nichts gehört. Die Große Magie würde uns doch nicht mit ihnen bestrafen, oder?«
»Und Mergan oder Karrak? Als ich starb, waren beide verschwunden. Sind sie je wieder aufgetaucht?«
»Nein, Herrin.«
Braston und sie hatten die beiden für tot gehalten, nachdem sie lange nach ihnen gesucht hatten. Keiner von ihnen hatte die Angewohnheit gehabt, spurlos zu verschwinden. Karrak hätte sein Reich nicht einfach im Stich gelassen, seine Sklavenzüge aufgegeben, seinen Himmel voller Krähen missen wollen. Und Mergan hätte die Freundschaft zu Braston und ihr nicht aufgeben mögen. Vielleicht hatten sie sich gegenseitig umgebracht – was angesichts ihrer Feindschaft nicht so unwahrscheinlich klang. Doch wenn sie tot waren, würden sie dann jetzt auch zurückkehren?
»Ich muss zu Braston«, sagte sie.
Noch während sie es aussprach, wurde ihr bewusst, dass es ihr an Kraft mangelte. Sie war hungrig und müde, und ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit welkem Laub gefüllt. Sie hatte sich mit der Absicht getragen, sich im Fadengang dorthin zu begeben – eine seltene Fähigkeit, über die nur die mächtigsten Fadenwirker verfügten –, aber im Augenblick würde sie vermutlich nicht die notwendige Konzentration aufbringen können.
»Was brauchst du, Herrin?«, fragte Harren. »Wir könnten dir die Tempelwachen als Eskorte mitgeben, oder …«
»Ich brauche nichts«, entgegnete Yalenna, »trotzdem danke für das Angebot. Allerdings werde ich wohl nicht sofort aufbrechen können. Vielleicht sollte ich die Nacht hierbleiben, ausruhen und essen.«
»Du bekommst alles, was du wünschst«, sagte Arah. »Wenn du jedoch ein wenig länger bleiben würdest, könntest du vielleicht eine Rede vor den Tempelschülern halten? Das würde ihnen viel bedeuten – dein Andenken macht den Tempel sehr stolz.«
»Nein, nein.« Yalenna schüttelte den Kopf. Bei Arahs Bitte wurde ihr flau im Magen. Ernste Gesichter, die auf Weisheiten erpicht waren? Was sollte ich ihnen sagen, wo ich doch selbst keine Ahnung habe, was im Augenblick los ist?
Aber sie entschied, etwas für Arah zu tun. Obwohl sie ihre Kräfte nicht leichtfertig einsetzte, glaubte sie, ein wenig Fadenwirken würde jetzt keine große Rolle spielen angesichts dessen, was in der Welt vor sich ging. Sie nahm Arah an der Hand. Das Mädchen zuckte zusammen, zog die Hand aber nicht zurück. Yalenna formte eine Segnung für sie.
Mögest du deine eigene Stärke erkennen.
»Hier«, sagte sie herzlich und entdeckte, dass ihr das Geben immer noch Freude bereitete. »Du bist gesegnet, Priesterin Arah.«
Harren schaute aufmerksam zu, und einen Moment lang wurde sein Gesicht milder und verriet seine Zuneigung für die junge Anführerin. Yalenna vergab ihm seine anfänglichen Vorbehalte. Vielleicht hätte sie genauso reagiert, wenn eine vor langer Zeit Verstorbene plötzlich ohne logische Erklärung im Tempel erschienen wäre.
»Und du auch, mein
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