One Night Wonder
1. Kapitel
Irgendwann ist auch ein Traum zu lange her
»Jede richtige Entscheidung ist auch ein bisschen falsch, und jede falsche Entscheidung ist auch ein bisschen richtig!«
Was soll ich darauf erwidern? »Wo hast du das denn her? Weisheiten für den Tag per SMS?«
Jule neben mir grinst von einem Ohr zum anderen: »Nein, meine ganz eigene Theorie.«
Seit dem von Papi gesponserten professionellen Bleaching haben ihre Zähne einen bläulich phosphoreszierenden Schimmer, fast wie Mondstein. Doch sie kann nichts entstellen.
Jule, die eigentlich Julia heißt, und ich kennen uns schon seit dem Gymnasium. Ich war damals mit meinen Eltern aus Gummersbach ins schicke Düsseldorf gezogen, stand auf dem Pausenhof und wurde gehänselt wegen meiner »komischen Hose«, wie meine Mitschüler aus der fünften Klasse sich damals ungnädig ausdrückten. Fakt war, ich hatte mich in einem vorangegangenen Amerikaurlaub in das Teil verliebt und fand es nicht nur cool, sondern auch ziemlich gangstermäßig. Sie war mehr als baggy, dunkelblau und hatte eine gestickte Blümchenranke um den Bund.
»Ich mag deine Hose«, piepste Jule, damals noch einen Kopf kleiner als ich und mit überdimensionaler Zahnspange. Seit diesem Tag sind wir Freundinnen, und ich will mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwann anders sein könnte. Trotzdem blinzle ich gerade leicht geblendet.
»Was ist?«
»Deine Strahlezähnchen …«
»Sie leuchten im Dunkeln.« Jule macht ein todernstes Gesicht, und dann muss ich doch lächeln.
»Ah, sie kann ja doch freundlich gucken!«
»Tss …«
»Na komm!« Jule legt einen Arm um mich und zieht mich an sich. Ich lehne mich an ihre schmale Schulter und bin in diesem Moment mal wieder endlos froh, dass sie meine beste Freundin ist.
»Was meintest du jetzt eigentlich mit deinem weisen Spruch?«, frage ich leise.
Jule streichelt über meine Haare. »Na ja, dass es ganz normal ist, wenn man manchmal zweifelt.«
»Ich zweifle gar nicht. Es war richtig, Schluss zu machen.«
»Ja, aber du warst drei Jahre mit Mark zusammen, so was schüttelt man doch nicht so einfach ab.«
»Ich hatte jetzt fast eineinhalb Jahre Zeit dazu, das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
»Ich weiß nicht genau. Und er hat immer noch Sachen bei mir, das nervt mich.«
»Schick ihm doch eine E-Mail oder schreib ihm über MySpace, dass er sein Zeug abholen soll.«
»Habe ich alles schon.«
»Dann will er vielleicht seinen Kram gar nicht wiederhaben.«
»Wenn er sich diese Woche nicht endlich meldet, bekommt er das ganze Zeug per Post, und dann war es das für mich.«
Jule seufzt zustimmend. »Gute Idee.«
Um uns herum werden die Kommilitonen plötzlich auffallend still. Aha, die Dozentin ist eingetroffen. Ich verbiege meinen Rücken, der bereits wieder schmerzt, und ziehe ein entsprechendes Gesicht dazu. An diese komischen Klappstühle in den Hörsälen habe ich mich auch nach dem dritten Semester noch nicht gewöhnt. Kein Mensch kann darauf wirklich bequem sitzen, aber das ist wohl auch nicht beabsichtigt. Jule bringt meinen leidenden Gesichtsausdruck mit Mark in Verbindung.
»Er meldet sich bestimmt diese Woche.«
»Na klar. Und Wale können fliegen«, ächze ich, krame meine Unterlagen hervor und klappe das ziemlich mitgenommene Holzpult herunter. Mit Edding ist groß darauf geschrieben: »Prof.: An« und darunter »Prof.: Aus«. Daneben sind jeweils zwei große Buttons gemalt. Auf was für Ideen manche Leute kommen!
Dann geht es los. Die Vorlesung trägt den schönen Titel »Architekturgeschichte«, und wir haben vor zwei Wochen mit den Bauwerken der frühchristlichen Epoche begonnen. Jede Stunde versinken wir in den Grundrissen mehrschiffiger Basiliken oder anderer Sakralbauten. Jule und ich sind völlig fasziniert davon und haben uns mit kindlicher Begeisterung für die Fachtermini kleine Vokabelheftchen angelegt.
»Atrium mit Narthex oder nur Narthex?«, raunt Jule mir gerade zu. Ich betrachte den an die Leinwand geworfenen Grundriss.
»Beides, glaube ich«, flüstere ich zurück.
Als könne die Dozentin Gedanken lesen, erläutert sie, dass es sich hierbei um ein Atrium mit Umgang und anschließendem Narthex handelt. Wir schreiben beide eifrig mit.
Jule und ich haben während der gesamten Oberstufe überlegt, was wir werden sollten. Für mich war eine Kombination von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften am wichtigsten. Auf keinen Fall wollte ich etwas studieren, das ohne eindeutige Berufsbezeichnung
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