Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
Mann, den man später als Herrn der Krähen kennen würde, den es stets zum Krieg drängen und der die Erde mit dem Blut seiner Opfer tränken würde. In der Zukunft würde er seinen Vater und seine Brüder töten und sich die Krone von Ander aufsetzen. Er würde Legionen aufstellen, die alle Welt versklaven sollten. Sein sich ständig vergrößerndes Reich würde den Menschen wie ein Gewittersturm am Horizont erscheinen. Aber in diesem Augenblick, in dem sie Trost bei einem Freund suchte, wusste sie davon noch nichts.
Nach diesem Tag würde keiner von ihnen mehr so sein wie zuvor. Die Fäden, die der Herr der Tränen der Großen Magie gestohlen hatte, konnten nirgendwohin und suchten sich ein neues Zuhause in den Wächtern. Fünf der acht wurden von so gewalttätigen und chaotischen Veränderungen heimgesucht und in ihren Strukturen so sehr verzerrt, dass sie dem Wahnsinn und der Bosheit verfielen. Das führte zum nächsten Konflikt, aus dem nur noch Yalenna und Braston lebend hervorgehen würden.
Sie erinnerte sich, dass sie und Braston beim Tod eines anderen Wächters – Forger war der Erste gewesen – auf der Hut gewesen waren, da sie erwartet hatten, das magische Fadenbündel von Forger würde aus dem Rest seines verblassenden Gewebes auf sie überspringen. Sie hatten sich vorgenommen, es so gut wie möglich abzuwehren, in der Hoffnung, es könne dann mit seinem letzten Träger hinter den Schleier entweichen. Doch das Bündel war gar nicht aufgetaucht. Sie hatten angenommen, dass es sich ihren Wünschen entsprechend verhalten hatte, und waren so zu der Überzeugung gelangt, den jeweiligen Besitzer zu töten sei der beste Weg, der Großen Magie die gestohlenen Fäden wieder zurückzugeben. Und am Ende würden sie sich, davon hatte Yalenna Braston überzeugt, selbst umbringen müssen, um die Wunde mit dem Ende ihres Lebens vollständig zu schließen.
Aber sie war noch da. Und jedes Mal, wenn sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, starrten sie die Augen des Herrn der Tränen an.
»Verflucht«, flüsterte sie. »Verschwinde.«
Damals hatte sich niemand darum geschert, doch jetzt stellte sie sich immer wieder vor, wie sie mit der Hand über die Augen des Toten strich und sie schloss.
Was war mit den Fäden der getöteten Wächter geschehen? Offensichtlich waren sie nicht wirklich hinter dem Schleier verschwunden, sonst wäre sie ja nicht wieder hier und könnte weitere Segnungen spenden. Hatten sich die Fäden so tief eingeflochten, dass sie der Wahrnehmung verborgen blieben und trotzdem den letzten Übergang nicht schaffen konnten? Falls das der Fall war, warum hatten sich die Wächter auf dem Turmdach so unterschiedlich verhalten?
Die Große Magie, das wusste sie, funktionierte nicht nach Regeln – zumindest nicht nach solchen, die jemals irgendjemand erkannt hätte. Sie war eine flüchtige, sich stets verändernde Kraft, und vielleicht hatte sie im Laufe der Jahre verschiedene Möglichkeiten versucht, um das zurückzuholen, was man ihr genommen hatte. Yalenna hatte eine Vision ihrer von der Großen Magie gestohlenen Fäden, die durch den Schleier drängten wie durch ein zu enges Sieb, während diejenigen, mit denen sie geboren worden war, also ihre eigenen, bereits jenseits des Schleiers schwebten und sich dort einzufügen begannen. Sie wollten sich im Tod auflösen und konnten es doch nicht, bis die Große Magie irgendwie den Fluss umkehrte und sie vollständig wieder ausspie.
Sie schüttelte den Kopf. Woher wollte sie wissen, was wirklich passiert war? Dazu würde sie vermutlich niemals in der Lage sein. Die Große Magie barg ihre Geheimnisse.
Mit einem tiefen Atemzug wandte sie sich nach Osten. Sie rief sich Althala vor Augen und konzentrierte sich, bis ihre Struktur zu sirren begann. Einen Moment lang schien die Welt zu zerfließen wie nasse Farbe, dann war Yalenna aufgelöst und hatte kein Bewusstsein mehr. Sie war nur noch eine Sammlung von Fäden, die schneller davonzischten, als es einem Menschen möglich gewesen wäre.
Einige Zeit später stieg sie aus der Luft herab, formte ihre Gestalt auf einer Weide vor den Mauern von Althala neu und holte tief Luft.
DER HERR DER QUALEN
Forger starrte in den Himmel. Sein Blickfeld war von hohen Gräsern umrahmt. Er blinzelte.
»Was?«, fragte er und richtete sich auf.
Er war im Dreck erwacht, auf grober Erde. Und auf Kieselsteinen, die fast so groß waren wie Melonen.
»Allerdings« – er hob einen Kieselstein auf und betrachtete ihn –
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