Der Herr der Tränen
heraus. Obwohl es windstill war, blieb er auf eine plötzliche Bö gefasst. Dann breitete er das Tuch vor ihr aus. Die blaugrünen Kleeblätter welkten bereits, und er müsste sie eigentlich in der Sonne trocknen lassen.
Tarzi rümpfte die sommersprossige Nase.
»Weißt du nicht, was das ist?«, fragte er.
»Unkraut?«
»Lockenzahn.«
Ihre Zweifel lösten sich in Überraschung auf. »Nein!«
»Doch.«
»Aber es heißt doch, Lockenzahn gebe es nicht mehr!«
»So heißt es. Es gibt ihn aber noch.«
»Bist du sicher? Hast du ihn schon einmal gesehen?«
Der tiefe Ort in ihm klaffte auf und drohte ihn zu verschlingen. »Ein- oder zweimal.«
»Aber dann ist das …« Sie betrachtete die Blätter und schätzte den Wert ab. »Es ist ein Vermögen wert.«
»Ja.«
»Man sagt, es genüge ein Krümel.«
»Das stimmt.«
Sie stupste eins der schlaffen Blätter an. »Vielleicht brauchen wir nie wieder zu arbeiten!« Plötzlich schien ihr dieser Gedanke unheimlich zu sein. Rostigan liebte sie, weil solche Dinge ihr zu schaffen machten.
»Die Pflanzen sind wertvoll, ja.« Er deutete auf die welkenden Blätter. »Wir könnten sie verkaufen. Und dann? Irgendjemand darf den größten Luxus genießen, den man sich mit Reichtum kaufen kann, und wir sind reich, müssen aber auf den Luxus verzichten? Klingt doch absurd, oder nicht?«
»Du meinst …?«
Rostigan lächelte. »Warum setzt du nicht schon mal Wasser auf?«
Einen Moment lang sah sie ihn ungläubig an, dann stieg ihr vor Freude die Röte ins Gesicht. Sie sprang auf, klatschte in die Hände und rannte den Hang zum Strand hinab, wo in einem Ring aus Steinen noch Glut vom nächtlichen Feuer glomm. Rostigan folgte ihr langsam, und während sie den Topf ausspülte – dazu musste sie über den heißen Sand zum Wasser gehen –, breitete er die Lockenzahnblätter in der Sonne aus. Normalerweise hätte er die Kräuter beim Trocknen sich selbst überlassen, doch heute setzte er sich auf einen Baumstamm und schaute zu. Während sich Tarzi um das Feuer kümmerte, Minzblätter in Stücke riss und das Kaninchen häutete, schien sie ihm ausnahmsweise seine Untätigkeit nicht übel zu nehmen.
»Also«, sagte sie und rieb sich mit Sand den Schlamm von den Händen, »was stellen wir damit an?«
Rostigan hatte noch nie mit Lockenzahn gekocht, aber schon dabei zugeschaut. An eines konnte er sich sehr genau erinnern: Die Köche überlegten sich stets gut, wie viele Zutaten sie auswählten. Lockenzahn hatte keinen eigenen Geschmack, sondern verstärkte andere Aromen, und zu viele in einer Speise konnten den Genuss schnell verderben.
»Vielleicht Kaninchen mit Minze?«, fragte er.
»Klingt ein bisschen einfach für den Anlass.«
»Meine kleine Drossel, selbst wenn wir nur Suppe aus Minze kochten, würde dich der Geschmack umhauen.«
Voller Aufregung verharrte sie kurz, dann kamen das Kaninchen und die Minze in den Topf. Mit einer übertriebenen Geste nahm Rostigan ein Lockenzahnblatt, riss ein winziges Stück davon ab und ließ es in den Topf fallen.
»Und jetzt?«
»Wir warten, wie jedes Mal beim Kochen. Komm.« Er zeigte neben sich auf den Baumstamm. »Du kannst dich in meinem Schatten ausruhen.«
Nach einer Weile gab es Tarzi auf, ständig in den Topf zu schauen, als könnte sie beobachten, wie die Magie wirkte, und setzte sich. Er legte einen Arm um sie, aber sie war zu rastlos. Bald erhob sie sich wieder und lief so aufgeregt hin und her, dass er befürchtete, sie könne versehentlich den trocknenden Lockenzahn unterm Sand begraben.
Als das Essen endlich fertig war, zitterten ihre Hände, als sie es in zwei Schüsseln füllte. Eine reichte sie Rostigan und wartete gespannt, als würde es ihm zufallen, den ersten Bissen zu probieren. Schulterzuckend aß er einen Löffel Kaninchen und Brühe.
Auch wenn seit dem letzten Mal eine Weile vergangen war, hatte der Lockenzahn genau die Wirkung, an die er sich erinnerte. Die Minze füllte seinen Mund frisch und grün, und das Kaninchen schmeckte so intensiv, als würde er dessen Seele verspeisen. Tarzi sah seine verzückte Miene, konnte es nicht länger aushalten und nahm zögerlich einen Happen. Einen solchen Ausdruck hatte Rostigan schon auf ihrem Gesicht gesehen, doch nur in der Hitze gewisser Augenblicke.
»Bei den Gezeiten«, entfuhr es ihr, und dann sagte sie eine ganze Weile gar nichts mehr. Genüsslich aßen sie, kratzten am Ende die Schüsseln aus und benutzten Zunge und Finger für die letzten Reste. Selbst den Mund
Weitere Kostenlose Bücher