Der Herr der Unruhe
rechten Fleck zu haben. In unseren 105
Zeiten ist das selten geworden. Aber jetzt komm erst mal herein.
Die Nachbarn müssen ja nicht deine ganze Lebensgeschichte erfahren.«
Nicos Blick wanderte unwillkürlich an ihr vorbei, dorthin, wo ihr unwirscher Mann entschwunden war.
Offenbar spürte sie die Beklemmung des Jungen, denn sie
streichelte ihm sanft das strubbelige Haar und sagte: »Keine Sorge, Nico. Mein Johan ist gar nicht so griesgrämig, wie er sich gibt.«
Zaghaft ergriff Nico ihre Hand. Sie fühlte sich genauso an, wie ihre Stimme klang: außen rau, aber trotzdem weich. Gleich hinter der Wohnungstür ließ er seinen Karton auf den Dielenboden sinken und sich die Jacke abnehmen. Danach schob Lea Mezei ihn durch einen langen Flur, von dem fünf oder sechs Türen abgin-gen; die zweite von rechts führte ins Wohnzimmer.
Der Raum war wohl an die vier Meter hoch, ebenso breit und ungefähr fünf Meter lang. Eine weiß und hellgrau gemusterte Ta-pete betonte seine enormen Ausmaße noch zusätzlich, soweit sich das im herrschenden Zwielicht überhaupt beurteilen ließ. Neben der Tür tickte eine verzierte Standuhr aus Birnbaumholz. An den Wänden hingen in schweren goldplattierten Rahmen mehrere
Ölbilder von Alpenlandschaften. Rechter Hand sah Nico hohe Bü-
cherregale und einen dreiteiligen Nussbaumschrank mit Glastür in der Mitte. Dahinter konnte er diverse Porzellanfiguren sowie Geschirr mit Goldrand und Blümchenmotiven ausmachen. Das
Zentrum des Raumes beherrschte ein großer Perserteppich, in dem die Farben Rot und Blau dominierten, sowie ein rechteckiger Tisch mit sechs Stühlen drum herum. Ihre Polster bestanden aus blauem Samt. Links entdeckte der Junge einen braunledernen Ohrensessel, in dem Handarbeitszeug lag, und eine mit Tierhaut bespannte Stehlampe; goldene Quasten daran bewegten sich
leicht im Luftzug. Gegenüber dem Eingang reihten sich drei hohe Fenster. Vor dem linken, zwei Schritt weit hinter dem Lehnstuhl, stand ein Schreibtisch, und an dem erwartete ihn bereits mit finsterer Miene Johan Mezei.
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»Du stehst da wie bestellt und nicht abgeholt. Nimm dir einen Stuhl und setz dich hin«, sagte der Meister zu Nicos Überraschung in flüssigem, wenn auch etwas derb klingendem Italienisch. Er deutete auf die Sitzgelegenheiten am Esstisch.
Der Junge sah unschlüssig die Frau des Uhrmachers an, die sich gerade im Ohrensessel niederließ. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. Nico schlich durch den Raum, zog einen der Stühle links vom Tisch zu sich heran und drehte ihn um. Als er sich setzen wollte, bemerkte er eine auf dem Polster liegende Tages-zeitung. Er schickte sich an, den Stuhl wieder unter den Tisch zu schieben, um sich einen unbelegten auszuwählen, als Johan Mezei der Geduldsfaden riss.
»Dauert alles so lang, was du tust? Jetzt platz dich endlich!«
Nico fuhr zusammen. Wozu sich setzen? Meister Johan würde ihn sowieso gleich wieder fortjagen. Trotzdem gehorchte er. Mit zitternden Händen nahm er die Zeitung vom Polster, setzte sich, legte die Gazette vorsichtig auf seinen Schoß und strich sie sorg-sam glatt.
Johan seufzte. »Warum hat Davide ausgerechnet mir das antun müssen!«
Das fragte sich Nico auch. Leise erklärte er: »Onkel Davide meinte, es wäre bestimmt gut, wenn der Sohn eines Uhrmachers auch zu einem Meister desselben Handwerks in die Lehre geht.«
»Und wer fragt mich, ob ich dich überhaupt als Stift haben will? Ob ich mir überhaupt so einen wie dich leisten kann?« Weil die Worte regelrecht aus Johan Mezei hervorbrachen, war er wieder ins Deutsche zurückgefallen.
Hilflos blickte Nico zu Lea.
»Meister Johan meint, dass er zwar im Moment keinen Lehr-
ling ausbilden wollte, aber es schon irgendwie gehen wird«, übersetzte sie.
Der Uhrmacher schnappte nach Luft. »Lea! Erst mauschelst
du dir die Thora zurecht und jetzt auch noch die Worte deines eigenen Mannes.«
»Nebbich, Johan! Ich hab nur übersetzt, was dein Herz spricht.
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Dein Gerede ist durch die harte Kruste drum herum oft schwer zu verstehen.«
»Aber sei doch vernünftig, Liebes! Sieh ihn dir mal an. Er läuft herum wie ein Hund mit eingekniffenem Schwanz. Er bewegt sich wie eine Schnecke. Und er ist so dünn!«
»Ausflüchte, Johan. Nichts als Ausflüchte.«
»Außerdem, wie soll er mit unseren Kunden reden? Er kann ja nicht mal Deutsch.«
»Ich möchte es lernen«, warf Nico auf Italienisch ein, weil er endlich wieder einen Satz verstanden hatte.
Johan funkelte ihn missmutig
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