Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Evolutionstheorie oder den Zusammenhang zwischen Fotosynthese und Chlorophyll. Die Geheimnisse des Genoms waren mir damals ebenso verschlossen wie jedem anderen auch. Ich hatte noch keine natürlichen Landschaften zu Gesicht bekommen, die menschen- oder gar lebensfeindlich sind. Gerade so, als verfügte ich über einen Exklusivzugang zu einer höheren Macht, wusste ich einfach, dass meine Lehrerin in nur zwei Sätzen alles vermasselt hatte. Die Augen passen sich der Natur an, nicht andersherum.
Ich weiß nicht mehr genau, wie und in welcher Reihenfolge es nach dieser Epiphanie weiterging, doch recht bald fielen mir weitere Merkwürdigkeiten auf. Wenn Gott der Schöpfer aller Dinge war, warum sollten wir ihn dann unaufhörlich »lobpreisen« für etwas, das er ganz natürlich von sich aus tat? Das kam mir, gelinde gesagt, servil vor. Wenn Jesus einen Blinden heilen konnte, dem er zufällig begegnete, warum heilte er dann nicht die Blindheit? Was war so wunderbar daran, dass er Teufel austrieb, wenn diese anschließend eine Herde Säue befallen durften? Ich fand das ziemlich düster, eher wie schwarze Magie. Warum zeigte das ständige Beten keine Wirkung? Warum musste ich dauernd öffentlich bekennen, ein elender Sünder zu sein? Warum wirkte das Thema Sex geradezu wie Gift? Diese noch wackligen kindlichen Einwände sind, wie ich festgestellt habe, recht verbreitet, wohl auch deshalb, weil keine Religion befriedigende Antworten darauf parat hat. Doch mir stellte sich noch eine andere, größere Frage – ich sage »mir stellte sich« und nicht »ich stellte mir«, weil diese Einwände nicht nur unüberwindlich, sondern auch unvermeidlich sind. Der Rektor, der, stets Das Buch in der Hand, die täglichen Gottesdienste und Andachten hielt, war ein kleiner Sadist und ein heimlicher Homosexueller, dem ich indes vergeben habe, weil er mein Interesse für Geschichte weckte und mir meinen ersten Roman von R. G. Wodehouse auslieh. Eines Abends sprach er Klartext mit uns: »Im Moment versteht ihr vielleicht nicht, wofür der Glaube gut ist«, sagte er. »Doch eines Tages, wenn ihr zum ersten Mal einen geliebten Angehörigen verliert, wird sich das ändern.«
Wieder erfassten mich tiefste Entrüstung und schierer Unglaube. Das hieß doch so viel wie: Vielleicht ist die Religion ja gar nicht wahr. Aber macht euch nichts draus, denn zumindest spendet sie euch Trost. Wie abscheulich. Ich war damals fast dreizehn und entwickelte mich zu einem unerträglichen kleinen Besserwisser. Obwohl ich noch nie von Sigmund Freud gehört hatte – der mir durchaus hätte helfen können, meinen Rektor zu verstehen –, war mir soeben eine praktische Umsetzung seines Essays »Die Zukunft der Illusion« zuteil geworden.
Diese Kindheitsgeschichten nötige ich meinen Lesern auf, um deutlich zu machen, dass ich nicht zu denen gehöre, deren intakter Glaube durch Kindesmissbrauch oder brutale Indoktrination zerstört wurde. Millionen von Menschen mussten das erdulden, und den Religionen kann und sollte man meines Erachtens keine Absolution dafür erteilen, dass sie solches Elend über die Menschen bringen. Erst in jüngster Vergangenheit haben wir erlebt, wie sich die katholische Kirche kompromittierte, indem sie gemeinsame Sache mit der unverzeihlichen Sünde des Kindesmissbrauchs machte. Allerdings haben auch nichtreligiöse Institutionen ähnliche, wenn nicht noch schlimmere Verbrechen begangen.
Trotzdem bleiben vier Einwände gegen den religiösen Glauben bestehen: Er stellt die Ursprünge des Menschen und des Universums völlig falsch dar, er verbindet infolge dieses Irrtums ein Höchstmaß an Unterwürfigkeit mit einem Höchstmaß an Solipsismus, er ist Folge und Ursache einer gefährlichen sexuellen Repression, und er fußt letzten Endes auf Wunschdenken.
Ich glaube, es ist nicht arrogant, wenn ich behaupte, dass ich diese vier Einwände entdeckte, ehe ich in den Stimmbruch kam. Dazu gesellte sich die banale Erkenntnis, dass sich weltliche Machthaber mithilfe der Religion gern Autorität verschaffen. Ich bin mir sicher, dass Millionen anderer Menschen auf sehr ähnlichem Wege zu vergleichbaren Schlüssen kommen, und bin an Hunderten von Orten in Dutzenden von Ländern solchen Menschen begegnet. Viele von ihnen waren nie gläubig, viele büßten ihren Glauben nach hartem Kampf ein. Manch einer erlebte schmerzhafte Momente des Zweifels, die so unvermittelt kamen wie bei Saulus von Tharsus auf der Straße vor Damaskus, wenn sie auch womöglich
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