Der Herr vom Rabengipfel
Rabengipfel hinaufgestiegen waren und die Stelle erreicht hatten, wo Erik mit dem Stein erschlagen worden war.
»Dort unten«, rief Taby mit dünner, zittriger Stimme. Merrik setzte ihn ab und beugte sich über den Abgrund. Etwa dreißig Fuß weiter unten hing Cleve leblos in einem Gestrüpp.
»Bei den Göttern, er ist abgestürzt.«
Oleg entrollte das Seil. »Ich hol' ihn rauf«, sagte Merrik und war bereits dabei, sich das Seil umzubinden.
Oleg hielt ihn am Arm fest. »Das Gestrüpp hält nicht viel aus, und du bist schwer, Merrik. Laß lieber Eller hinuntersteigen.«
Merrik nickte zögernd. Dann rief er: »Komm Eller, rasch!«
Oleg und Roran hielten das Seil, an dem Eller sich in die Tiefe ließ.
»Der Strauch gibt nach«, flüsterte Laren angstvoll und starrte in die Tiefe.
»Nein«, widersprach Merrik zuversichtlich. »Er hält, bis wir Cleve heraufgebracht haben.« Laren nickte bedächtig. Sie kniete auf dem Felsen und schlang ihre Arme um Taby. »Das hast du gut gemacht«, lobte sie den Kleinen, küßte seine schmutzige Wange und tätschelte ihm den Rücken. »Weißt du, was passiert ist? Ist Cleve abgestürzt?«
Taby versteifte sich in ihren Armen und senkte den Kopf.
»Taby?« fragte Merrik verwundert. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Taby, das Gesicht an Larens Hals geborgen. Sie spürte seine heißen Tränen auf ihrer Haut.
Merrik schüttelte verwundert den Kopf. Dann beugte er sich über den Abgrund. Eller hatte auf einem Felsvorsprung schwankenden Halt gefunden und befestigte das Seil um Cleves Brustkorb.
Er ging äußerst vorsichtig und langsam zu Werke, seine Zehen krallten sich am Felsen fest, und eine Hand hielt sich am Gestrüpp fest. Wenn die Wurzeln nachgaben, würden beide Männer in den Abgrund stürzen. Nach bangem Warten konnte der leblose Körper endlich hochgezogen werden. Das letzte Stück zog Merrik den Verletzten hoch, indem er ihm unter die Achseln griff. Dann legte er ihn auf den Felsvorsprung und knotete das Seil auf. »Rasch«, rief er, »werft Eller das Seil wieder zu, bevor er sich vor Angst in die Hosen macht.«
Laren kniete neben Cleve. Über seiner rechten Schläfe klaffte eine blutende Wunde. Doch er atmete, wenn sein Puls auch nur noch schwach schlug. »Er muß gestolpert und in den Abgrund gestürzt sein«, sagte Laren.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Merrik zweifelnd. »Was hatte er hier oben allein zu suchen? Und was machte Taby hier?«
Merrik legte sich Cleve über die Schultern, und man begann den beschwerlichen Abstieg.
Am späten Abend gab Cleve erste Lebenszeichen von sich. Er schlug die Augen auf, rief etwas in einer fremden Sprache, und bat, ja flehte inständig und herzzerreißend, man möge ihn nicht allein lassen. Laren flößte ihm Fleischbrühe ein, und Sarla wusch ihm das Gesicht mit kaltem Wasser.
Es gab viel Gerede und Vermutungen, war doch Erik an genau derselben Stelle mit eingeschlagenem Schädel gefunden worden. Alle hatten Deglin für den Täter gehalten. War Cleve niedergeschlagen und über den Felsvorsprung gestoßen worden? Und was hatte Taby gesehen? Das Kind schwieg verstockt, wollte sich nicht einmal Merrik anvertrauen.
Laren und Sarla hielten abwechselnd Nachtwache bei Cleve. Taby wich nicht von seiner Seite; er kuschelte sich an ihn und hielt krampfhaft die Augen offen.
Hallad versuchte, seinen Sohn wegzulocken, doch Taby weigerte sich eigensinnig. Er sprach nicht und ging auch nicht von Cleves Seite weg.
»Er wird zu sich kommen, ich weiß, er wird zu sich kommen«, sagte Laren beschwörend zu Sarla, die so bleich war, daß Laren um ihre Gesundheit bangte. »Leg dich schlafen, ich wache bei ihm.«
»Nein, du bist erschöpft. Und du bist schwanger. Geh und ruh dich aus, Laren. Ich bleibe bei Cleve.«
Laren blickte in Sarlas tief umschatteten Augen und nickte zögernd. Dann weckte sie Taby. »Komm, mein kleiner Liebling. Wir gehen jetzt zu Bett. Du darfst heute nacht bei Merrik und mir schlafen.«
Taby war sofort hellwach, ohne zu blinzeln, ohne zu gähnen.
Er blickte verstört von seiner Schwester zu Sarla und schüttelte dann störrisch den Kopf. »Nein Laren, ich bleibe bei Cleve.«
Sie wollte ihn hochheben, doch ein Blick in seine flehenden Augen hielt sie zurück. »Na gut, aber du mußt ganz still sein. Cleve ist sehr krank.«
»Ich weiß.« Taby kuschelte sich wieder an ihn und legte die kleine Hand auf Cleves Brust.
»Sarla sieht krank aus«, sagte Hallad. »Sie ist bleich und hat tiefe Ringe
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