Der Herr von Moor House
er großes Interesse an seinen Ländereien. Jeden Tag war er mit dem Verwalter unterwegs.”
“Was noch lange nicht heißt, dass er sich hier häuslich niederlassen wird, Cousine”, erwiderte Giles. “Chris hat das Landgut schon immer geliebt. Statt in Oxford zu studieren, blieb er lieber daheim und kümmerte sich um den Besitz. Und das war gut so, denn unser lieber Papa ließ alles verkommen.”
“Da irrst du dich sicher, Giles”, entgegnete Mrs Gardener erstaunt. “Ich habe deinen Vater als sehr vernünftigen, verlässlichen Mann in Erinnerung.”
“Vielleicht war er das mal. Aber nach Mamas Tod hat er sich sehr verändert, und er wohnte nur mehr selten in Moor House. Weißt du noch, Megan?”
“Ja, dein Vater verbrachte den Großteil seiner Zeit in London.”
“Wir sahen ihn nur ein paar Wochen im Jahr. Und Chris hat Georgiana und mich praktisch großgezogen. Er war sehr streng.” Grinsend wandte er sich zu Sophie. “Um ehrlich zu sein, in deiner Haut möchte ich nicht stecken. Mein Bruder hat sehr kräftige Hände. Die Prügel, die ich dauernd bekam …”
“… und die du auch verdient hast”, unterbrach ihn eine spöttische Stimme, die Megans Puls sofort beschleunigte. Sie drehte sich um und sah, wie Christian die Salontür hinter sich schloss.
Langsam ging er zu der kleinen Gruppe, in eleganten hellbraunen Breeches und einem Jackett aus schwarzem Tuch. Eine blütenweiße Krawatte betonte seine Sonnenbräune. Nur sekundenlang musterte er Megan mit unergründlichen Augen, bevor er sich zu seinem Mündel wandte.
“Lass dich von meinem unverbesserlichen Bruder nicht einschüchtern, Sophie. Ich habe noch nie meine Hand gegen eine Dame erhoben.” Lächelnd berührte er Megans Arm. “Ich hoffe, die Reise war nicht zu anstrengend?”
Obwohl ihr Herz viel zu heftig schlug, gelang es ihr, mit ruhiger Stimme zu erwidern: “Im Gegensatz zu dir bin ich nicht an weite Reisen gewöhnt. Deshalb fand ich die Fahrt etwas ermüdend, aber sehr komfortabel. In einer so luxuriösen Kutsche saß ich noch nie.”
“Ja, sie ist wundervoll”, stimmte Giles zu, “ebenso wie deine neue Karriole, Chris. Ich kann es kaum erwarten, die Zügel zu ergreifen.” Ungeduldig warf er einen Blick auf sein verletztes Bein. “Und den neuen Wallach möchte ich auch ausprobieren. Sobald es der alte Knochenbrecher erlaubt, werde ich mich in den Sattel schwingen. Reitest du gern, Sophie?”
“Oh ja.” Sophies anfängliche Scheu war längst verflogen. “Aber dazu fand ich nur selten eine Gelegenheit. Tante Charlottes Haus liegt mitten in der Stadt, also gingen wir fast überall zu Fuß hin.”
Giles wandte sich zu ihrer Tante. “Seltsam, dass du in einer Stadt gelebt hast, Megan … Wenn ich mich recht entsinne, hast du das Landleben geliebt. Jeden Tag bist du ausgeritten.”
“Das kann sie jetzt wieder tun.” Christian sank in einen Sessel, der dicht vor dem Kamin stand. “In meinem Stall stehen mehrere geeignete Pferde. Vielleicht kann ich die Damen morgen früh überreden, mit mir auszureiten?”
“Sophie wird sich sicher darüber freuen, Christian”, entgegnete Megan. “Leider kann ich euch nicht begleiten, weil ich kein Reitkostüm eingepackt habe.”
“Kein Problem …” Christian lächelte herausfordernd. “Bei ihrem letzten Besuch hat Georgiana einige Kleider hiergelassen. Darunter findest du sicher ein passendes Reitkostüm – falls du uns begleiten möchtest.”
Mühsam verbarg sie ihren Ärger. Er wusste sehr gut, dass sie seine Gesellschaft zu meiden gedachte. Aber nun musste sie sein Angebot annehmen. Sonst hätten sich alle anderen Anwesenden über ihre Unhöflichkeit gewundert.
“Komm doch mit!” drängte Sophie ahnungslos. “Wir könnten zur Ruine der alten Abtei reiten.”
“Warum wollt ihr euch dieses verfallene Gemäuer anschauen?”, fragte Giles. “Es gibt interessantere Sehenswürdigkeiten.”
“Aber ich finde die Ruine so romantisch, so aufregend! Überleg doch, was dem armen Bruder Sebastian zugestoßen ist!”
“Was denn, meine Liebe?”, fragte Mrs Gardener.
“Er geriet in den Bann eines schönen Mädchens, Madam. Jede Nacht stieg er zu einer Höhle hinab, die unterhalb der Abtei lag, zwischen den Meeresklippen. Dort sah er die junge Frau auf einem Felsen sitzen. Eines Nachts war sie nicht mehr da. Auch in der nächsten und übernächsten Nacht sah er sie nicht. Viele Wochen verstrichen, und sie kehrte noch immer nicht zurück. Da brach dem armen Sebastian das Herz.
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